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Überlebens-Kunst wider die Tücken der Zeit:
Von „Wall Street 1 & 2“ zu „Junge Freiheit“?[i]

 

Überlebenskunst wider die Tücken der Zeit? Das setzt eine fundierte Kenntnis der Wirkungszusammenhänge voraus, die die gegenwärtige Kultur, die wir in der Mor­phologie als Auskuppelkultur beschreiben, durchformen. Es geht also um Kultur­psychologie. Und die gibt es nur im konkreten Umgang. Wie aber wird dieser zu einer Kunst des Überlebens inmitten schwieriger und zugleich wi­der diese Zeiten?

 

Ich möchte daher im Folgenden einen groben Einblick vermitteln in das diffizi­le Spannungsfeld von Auskuppeln und Einkuppeln indem ich diese Strukturbil­­dun­gen an zwei konkreten Auslegungen verfolge:

 

1987 drehte Oliver Stone den Film „Wall Street - Jeder Traum hat einen Preis“, der durch die Finanzkri­se unserer Tage eine besondere Aktualität er­fährt. 2010 kam so ein Folgefilm auf unsere Leinwände. Indem ein junger, ehrgeiziger Bör­sen­makler in die vielversprechenden Fänge des Spekulations­geschäftes, sei­ner Blasen und Manipulationen gerät und schließlich den Konsequenzen sei­ner Taten in die Augen schauen muss, wird das Auskuppeln hautnah er­leb­bar. In den Entfal­tungen dieser Auswüchse bis zum Jah­re 2010 werden die Ent­wick­lun­gen dieses Er­lebenskomplexes psychologisch konse­quent über die letzten Jahrzehnte ver­folgt.

 

Auf der anderen Seite, d. h. als Versuch des Einkuppelns, möchte ich - etwas provokativ - ei­nen Werbebrief der Zeitung „Junge Freiheit“ behandeln, der unter dem Titel „Was wir aus dem Fall Sarrazin politisch lernen“ im September 2010 an viele Haus­halt verschickt wurde. Dabei lohnt es sich hier mal genauer hinzuschauen, zumal wenn es darum geht, jüngere Phäno­mene von Rechts­ruck bis hin zu Rechts­radikalismus verstehen zu wollen.

 

In besonderer Weise wird in all dem deutlich werden, wie sehr die sogenannte ‚Finanzkrise‘ verbunden, ja im Grunde gleichzusetzen ist mit einer umfassen­den Kulturkrise, in der wir alle feststecken, und diese zugleich eine Krise der (Tie­fen-)Psy­­chologie heute ist:

 

Finanzkrise   =   Kulturkrise   =   Krise der (Tiefen-)Psychologie  

 

Wirkungseinheiten der Gegenwartskultur (Morphologische Hexa­gram­me)

 

Zur Analyse ist ein Konzept erforderlich. Das Hexagramm ist ein Modell der Mor­phologischen Gegenstandsbildung, das die jeweils wirksamen Ausdrucks­pro­zesse als eine lebendige ‚Geometrie‘ von Gestaltbildungen veranschau­licht. Diese fügt sich zu ei­nem sinnvollen Zusammenhang in sich, zu einer Wir­­kungs-Ein­heit von um­fassenden Werken. Das Gan­ze ei­ner Kul­tur und ih­re Ent­­wick­lun­­gen werden erfahrbar als sinnlich-materiale Produktionsprozess des See­lischen - als Unterhal­tungen der Wirklichkeit. Kon­kret erfasst werden diese viel­ge­stal­tigen Spannungs­gefüge, die uns zumeist nicht bewusst sind, indem sie auf den Boden von sechs Werk-Bedingungen gestellt werden:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die folgende Folie soll einen Überblick geben, der auf viele Jahre empirischer Forschung gründet. Dabei werden die beiden Tendenzen der Gegenwart, das Auskuppeln, d. h. ein beliebiges „Alles geht“, und das Einkuppeln, d. h. ein ent­­schiedenes Bild für unser seelisches Überleben, als eine Zwei-Einheit im Sinn einer Gegensatz- oder Ergänzungs-Einheit dargestellt. Das eine kann oh­ne das andere nicht existieren; Beides ist stets irgendwie im Spiel unseres Alltags wirk­sam. Doch so tiefgreifend diese Tendenzen miteinander verstrickt sind, so wenig wollen sie in unserer Kultur miteinander in Austausch treten und lieber in Spaltun­gen verharren. Das Auskuppeln will das Einkuppeln ver­drängt hal­ten. Das Gestri­chelte des hinteren Hexagramms soll diese ‚Produk­tions­stö­rung‘ unserer Zeit zum Ausdruck bringen, in der sich das Hauptbild gegen sein Nebenbild und seine drängenden (Verwandlungs-)Inhalte stemmt. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Beginnen wir bei der Aneignung. Diese wird im „Alles geht“ des Auskuppelns bestimmt durch eine unbewusste All-Gier. In Folge dessen bildet sich psycho-logisch eine Wirklichkeit aus, die sich als ‚verhexte Freiheit‘ beschreiben lässt. Tiefer geschaut steckt dahinter eine Vielzahl von missglückten Vergangen­­heits­­be­­wäl­tigungen, welche, diffus miteinander verschmolzen, unserer tiefver­wundeten Kultur ein unbewusstes Erbe hinterlassen hat. Das ergänzt sich mit einer Umbil­dung, die - wie die Pfeile zeigen - im Grunde keine Umbildung ist, son­­dern durch Verkürzungen in Demonstrationen von Offenheit, Vielfalt und Gleichheit mündet. Dass diese nicht gelebt werden (können) und nichts als lee­re Floskeln sind, die heutzutage jedoch zum guten Ton gehören, zeigt sich spätestens, wenn die (Ver­wandlungs-)Inhalte des Einkuppelns und ihre Über­lebensbilder ins Spiel gebracht werden. Denn alles geht eben nicht, alles ist zu­gleich nichts und kaum gleichwer­tig mit einem entschieden gelebten Et­was, das seine Versprechen hält. Dann be­stimmen entlang uneingestandenem Verwand­lungsneid Abwehr und Abwertung dieser entlarvenden Sichtweisen, Fragen und Zweifel das Feld, während in der Spal­tung zugleich voller Stolz an den schönen Demonstrationen festgehalten wird. Genau­er betrachtet verbirgt sich darin also ein unbewusstes Ressentiment, das vor tieferen Auseinander­setzungen mit sich und der Welt flieht, und das Grund­ver­hält­nis von eigen - anders/fremd un­an­tast­bar hält, d. h. dieses, wie wir in der Morphologie sagen, verkehrt hält. So verkehrt sich der lebendige Aus­tausch dieser beiden sich ergänzenden Seiten unserer Wirk­lich­keit in ein diffuses Gleich­­­machen, in leb­lose Ab­strak­tion, falsche Harmonie und strenge For­­ma­li­sie­rung, Ritualisierung etc., um die explosiblen Ver­drän­gun­gen zu bän­digen. Verschie­­denheit und Widerspruch können entgegen der Demonstration kaum ertragen werden. Wie ein Bollwerk stemmen unbe­wuss­te Zwänge sich ge­gen das Leben, wie es wirklich ist. Als Bild eignet sich hier der Turm im Mär­­chen Rapunzel, in dem Rapun­zel von einer machtvollen Hexe fest­gehalten wird: erhaben, schein­bar perfekt um­sorgt, aber blass, ja leblos und ohne Ein- noch Aus­gang, abgekap­selt von der konkreten Lebenswelt, seinen Leiden, seinen Kämpfen.

 

Die Umbildung des Einkuppelns, die hier zur Befreiung Rapun­zels aus seiner ‚ver­­kehr­ten Welt‘ führen würde, unterstützt das Angehen wider die Verkehrun­gen bzw. das Verkehrt-Halten (Neurose); und sucht die Abstürze aus dem Turm in die Ungeheuerlichkeiten unserer Zeit, ins Erwach(s)en aufzufangen. Damit einher ginge eine umfassende Seelenrevolution (vgl. SALBER 1993), in der irgendwann einiges auf den ‚Bürger‘ zukommen wird. Davon aber sind wir heute weit entfernt. In seltenen Augenblicken nur können wir die Spaltungen mal überschreiten. Doch allein über derart einschneidende Ereignisse und lang­wierige Entwicklungs­pro­­zesse wird sich das Festsitzen nach­­­­hal­tig ver­wandeln lassen in ein neues, ande­res und tragfähigeres Leben. In offene, ‚un­ver­hex­te‘ Kulturbildungen, die unver­meidlich riskant, leidvoll und unvoll­kom­­men sein und blei­ben wer­den. Das ergänzt sich wie­derum mit einer Aneig­nung vol­ler Un­ruhe und mär­chenhafter Wegwei­sungen und umschließt so den großen Kreis menschlicher Verwandlungswerke und Kultivierung. Märchenhaf­te Weg­wei­sung meint demnach nicht verdrängende, mit Störungen zurecht­kommende Pro­duk­tions­prozesse, d. h. eine funktionierende Selbstbehandlung des See­li­schen, die nicht von unbewussten Bild-Ab­spaltungen ins Auskuppeln und seine leeren Demonstrationen getrieben wird.

 

Die Einwirkung des Auskuppelns ist bestimmt von den unbewussten Wider­­ständen gegen das Erwach(s)en. Dabei sind es ausgeklügelte Trickkisten des Still(-leg-)ens, die über scheinbar ewige Unschuld und Vollkommenheit wa­chen. Paläste des Um-schuldens ragen so aus dem Boden und versinnlichen  nochmal etwas an­ders die aufwendigen Zurechtmachungen und Rationalisie­rungen, die zwang­haft verdecken und verschieben müssen, was sich jenseits des schönen Scheins zu zeigen wagt. Zentraler Mechanismus derart umfas­­sender Blendwerke ist wieder und wieder das allgierige Gleichmachen im Sinn eines undifferenzierten In-Eins-Rückens von Verkehrungs- und Entwicklungs­gestalt und anderer Exis­tenzverhältnisse, wodurch die immanenten Zusam­menhänge nicht gesehen und diese Wirklichkeiten nicht umgebildet werden können. Die unbewusste Sehnsucht der Auskuppelkultur nach All-Macht, All-Besitz, sowie kindlichem Gehorsam und Ge­wissenlosigkeit ver­quir­len hier zu einer selbstgerechten Allianz besonderer Art. Das ergänzt sich mit einer An­ordnung, die sich aus den Vereinseitigungen der Bildinflation und der so er­wirkten Zerstückelung unserer Lebenswelt psycholo­­gisch ergibt: Eine zurecht­gemachte ‚Realität‘ triumphiert wegweisend über die Wirklichkeiten unseres Alltags und ordnet diese tief und polar bewegte Seelen­­­landschaft im Stil ei­nes Getrennt-Haltens. Eine Vielzahl von selbst­ver­ständ­lich gewordenen und nicht weiter hinterfragten Dualismen der Abstrak­tion durchzieht unser ‚Denken‘: Vernunft – Glauben, rational – irrational, innen – außen, Subjekt – Objekt, Kul­tur – Individuum, Freiheit – Determination etc..  

 

Dagegen wagt die Anordnung des Einkuppelns den Blick auf das verrückte Gan­ze, das sich als ein spannungsvolles Gefüge voller Seltsamkeiten, Ur-Bil­­der und Paradoxien gegen das Auskuppeln zum Ausdruck zu bringen sucht. Dem ent­spricht in der Morphologie die Kategorie des Indem. Ein versatiles System, das mit Nichts zu Stoppen oder aus der Welt zu schaffen ist, so sehr das Auskuppeln es versucht. Eigenartige Gestalt-, Werk- und Bild-Ge­setze sind es, die diese kunstvoll drängenden Gestaltbildungen bewegen und sich so als die entscheiden­den Beweger unserer psychologischen oder besser psych­ästhetischen Ordnung von Wirklichkeit qualifizieren. So gesehen wird die Einwirkung im Einkuppeln zum Produktionsprozess eines Seelischen, das diese Schicksalsgestalt(-ung-)en und ihre Verkehrungen, als Heuristik (HR), im doppelten Sinn leiden kann, anstel­le vor diesen zu fliehen. Im lebendigen Austausch mit einer Vielzahl von mensch­lichen Existenzverhältnissen (Zwei-Einheiten) und ihren möglichen Wendungen (er-)wächst, was in der jeweiligen Zeit und unter den historischen Bedingungen werden will, was es ist.  

 

Über die Ausbreitung und ihrer Erlebensqualitäten entfalten sich die ‚Dinge‘. In der Wirkungskonsequenz der unbewussten All-Gier des Auskuppelns ver­kehren sich aber die stolzen Ideale mehr und mehr: Offenheit wird zu Ge­schlossenheit, Freiheit zu Gefan­gen­schaft, Vielfalt zu Einfalt, Aufklärung zu Verklärung, Demo­kratie zu Diktatur, Fortschritt zu Stilllegung, Sehnsucht zu Sucht, Liebe zu Abhän­­­gigkeit, Zwang etc.. Die großen Erwartungen unserer Kultivierungen bringen große Panik mit sich. Haltlosigkeiten breiten sich aus und hier und da kom­men zag­haft Fragen auf, ob sich die möglich erschei­­nenden Werke vielleicht in un­mögliche Blendwerke verkehrt haben? Da Spal­tung und Leugnung weiter das Feld beherr­schen, wer­den die Verkehrungen in Kurzschlüssen festge­­hal­ten. Das Ver­drängte bleibt jedoch nicht un­tätig. Symp­­tom­­bildun­gen melden sich zugleich, ohne dass ein in sich stimmiger Sinn­zusammenhang hergestellt wer­den kann: Krankheiten, Verständnislosig­keit, ‚Aufmerksamkeitsdefizite‘, Mob­bing, un­bän­dige Wut bis hin zu Amokläu­fen, aber auch Überkorrektheit, Übervernunft und aller­lei Morali­sie­­rungen sind Umgangsformen mit den Phänomenen der Zeit. Diese ergänzen sich mit einer Ausrüstung oder Verfassung unserer Kul­tur, die in ihren unbewussten Gefan­­gen­schaf­ten immer weiter auf das verfüh­rerisch still(-leg-)ende Hamsterrad des Gewohnten, schein­­bar Bewährten und Errungenen schwört und mit der steten Verfeinerung dessen, sowie kleinen Abwandlungen experimentiert. Mit grundle­genden Reformen hat sie es nicht. Das umreißt eine Art ‚schöne ver­kehrte Welt‘, eine ‚normalisierte‘ Weltsicht, Be­trieb­sam­keit, sowie dementspre­­chende Klagen, Verdrän­gungen und Projek­tionen als (Zusammen-)Halt und Schutz. Anerkennung und Wertschätzung speisen sich aus der Einhaltung die­ses Regelwerks, unserer unbewussten ‚Leitkultur‘, die sich zunehmend als ein unbewusst wirk­sames Ein­heits-Diktat entpuppt, das partout nicht seinem Schatten begegnen will und diesen anderswo bekämpfen muss. Zwischen den De­mon­strationen von nahezu unge­brochenen Kulturideali­sie­run­gen, die das vordergründig glanz­volle Bild bestim­­men, weiß auch der ver­leugnete Schatten sich auszubreiten und droht so das Ge­­samtbild zu verdunkeln bis hin zu kip­pen (s. o.). Tiefer geschaut zeigen sich darin nun Metamorphosen von einst Erlittenem, Verschul­detem und damit Gewalt aller Art, auch strukturelle Ge­walt. Unbe­­wusste Wie­der­­ho­lungs­­zwänge „gebrochener Herzen“ bringen die Ge­schicht­­lich­keit un­se­res Seins, seine Genese, seine Mühen und seine Ver­wundungen ins Blickfeld. All das wird wie immer getrennt gehalten, im Neben­einander angeordnet, und individualisiert behandelt.   

 

Dagegen stellt die Ausrüstung des Einkuppelns einen Seelen-Reichtum im Aus­­tausch, ein entschiedenes Hinsehen und Mitbewegen, das Liegengelas­senen, Aufgegebenes wieder und wieder aufzunehmen, sowie Verkehrtes zu zerstören weiß. Hier steht der Versuch einer offenen Begegnung von Mensch zu Mensch im Vordergrund, zwischen Menschen aus Fleisch und Blut, mit einer je eigenen Ge­schichte, einem eigenen Schicksal, das die Verkehrun­gen des Lebens, seine Lei­den, sein Scheitern, seine Schuld, aber auch die Freu­den und Triump­fe im Spiel hält. So sehr damit die Wiederkehr des Ver­dängten das Ruder in der Hand zu nehmen sucht und etwas wirklich Anderes, Neues möglich wird, das mit allen Sin­nen ertragen und entwickelt werden kann, so werden gewisse Unstimmigkeiten, Behinderungen, Unvollkom­men­hei­ten nicht zu vermeiden sein. Das ergänzt sich mit einer Ausbreitung, die sich als Durch­machen und Umsatz ‚eigener‘ Verwand­lungswerke in dramatischen Bil­der-Kämpfen umschreiben lässt. Im Durch­­le­ben wird ein Zusam­menhang in sich verständlich, der nachhaltig Halt gibt und so selbst der leidvollen Abwehr ­von Seiten des Auskuppelns (manchmal) stand zu halten vermag. Ein mühevolles Unternehmen. Das aber heißt auch: Stellung be­ziehen!

 

Und damit kommen wir zu jenen oben bereits erwähnten Ungeheuerlichkeiten des Einkuppelns. Denn das verrückte Ganze zeigt sich nun mit aller Härte. So wird deutlich, welche Inhalte es mit Entschiedenheit zu Felde zu rücken gilt, wenn wir eine Welt erkämpfen und gestalten wollen, die weniger (selbst-)zer­­­­stö­­rerisch ist als die uns bislang bekannte: Wir müssen erfahren, dass wir sel­ber herstellen, was wir zu bekämp­fen meinen und uns so jedes Darüber Hin­aus, jede wirkliche Offenheit selber verbauen. Dass wir zerstören müssen, wer oder was sich ent­schieden wehrt und neue, ehrlichere Wege geht. Dass wir einen Genuss empfinden an dieser, un­serer Kulturneurose, die uns (noch) zu­sam­menhält, dass wir es genießen zu zerstören, zu quälen, und selbst am Missbrauch uns heimlich erfreu­en. Schließ­­lich, dass all das einen Sinn, einen Hintergrund, eine Genese hat und auf ein kulturelles Erbe verweist, dem wir uns aller Beteuerung zum Trotz bislang nicht in aller Konsequenz zu stellen gewagt haben. Andererseits zeigt sich jedoch auch, dass die Rettung nur im Paradox zu haben ist, dass im gefürchteten Ab­sturz und Zerfall, im Ausgesto­ßenen, im Fremden, im Verrückten und im zunächst blin­den Herumirren und Herum­probieren irgendwann die Rettung liegt.

 

Ich denke, diese Ausführungen bringen zum Ausdruck, in welch tiefgreifender Kulturkrise wir uns befinden und mit welch ebenso tiefgreifender Methode wir demnach vorgehen müssen, um diese erfassen zu können: Eine hochkultivier­te Massenflucht und Destruktivität bringt als geradezu ‚identitätsstiftende‘ Er­­rungenschaft unserer Zeit ungeheure Gefahren mit sich, dem Leben ins Ge­sicht zu schauen. Dieses Hinschauen aber ist unser Geschäft als Psycholo­gen, die wir in dieser Auskuppelkultur leben. Und darin begründet sich eine Krise der (Tie­fen-)Psy­cho­logie, die zunehmend um sich greift. Zugleich ver­schwindet - kaum zufällig - an den Universitäten, den Kaderschmie­­den unse­res Kultur­stol­zes, zunehmend alles, was mit Unbewusstem und Ganz­heit zu­sammen­hängt und wird als unwis­senschaftlich abge­stem­pelt. Verhängnisvol­lerweise. Nicht zu­letzt spielt hier das beliebte postmoderne Denken des „Any­­thing goes“ rein, dass jede Ganzheit zu­gunsten von Viel­heiten verabschiedet, schein­bar um dem Terror von Totalitaris­men zu entgehen. Psychologisch be­trach­tet aber wird dieser eben dadurch kon­serviert, als ein unbewusst wüten­der Ver­keh­rungs­zwang, über den sich unmög­lich, wie dennoch immerfort ge­priesen, eine „offene Gesell­schaft“ ausgestalten kann. Dort­hin ist es noch ein langer, mühsamer Weg. Auch davon muss man et­was wissen, wenn man an den Film „Wall Street“ herangeht.   

 

„Wall Street 1 & 2“ (USA 1987, 2010) – Filmisches Auskuppeln

 

Gerade Filme bieten einen ungewöhnlichen Zugang zu kulturellen Wirkungs­­gestalten und ihren Entwicklungen. Denn ihre bewegenden Bilderwelten sind zu­gleich die Sprache des Seelischen und werden so zu einen Medium für un­­bewusste Produktionsprozesse, in denen sich der dramatische Umgang mit den Verhältnissen der Wirklichkeit versinnlicht. Die Erlebens-Geschichten wis­sen also insgeheim von den Verwandlungs-Komplexen der Zeit zu erzählen.

 

Die beiden Filme „Wall Street 1 & 2“ (USA) von Oliver Stone aus den Jahren 1987 und 2010 versprechen daher in besonderer Weise Einblicke zu eröffnen in das Gefüge unserer von Krisen nur so geschüttelten Gegen­wartskultur.

 

Beginnen wir mit der Geschichte von „Wall Street 1 – Jeder Traum hat einen Preis“: Ein junger Börsenmak­ler - Bud Fox - hat einen Traum. Er möchte ganz oben mitspielen, Karriere ma­chen. Dafür lässt er sich was einfallen und sucht Kontakt zu einem der ganz Gro­ßen in New York, Gordon Gecko. Mehr und mehr ge­rät er dadurch in einen Sumpf von Gier nach Geld und ­Macht, in dem nahe­zu je­des Mittel recht ist, auch Börsenmanipulationen und Insider-Ge­schäf­te. Völ­lig ver­einnahmt von diesen unheilvollen Machenschaften lan­­det er am Ende im Ge­fängnis. Doch er liefert Ge­cko mit aus.

 

Psychologisch entfaltet sich das Spannungsfeld zwischen Ausbreitung und Aus­rüstung nahezu durchgängig als eine Erlebensgestalt des Auskuppelns.

 

Im Erleben von Ausbreitung erfahren wir Zuschauer, wie sich ein Traum in einen Albtraum verführerischer Unmöglichkeiten verkehrt. Das Auskuppeln rennt in der Geldabstraktion in fatale Enge. Das lässt sich weiter qualifizieren und  ausgestal­ten in der Verkehrung  und das Verkehrt-Halten  eines sinnlich-ma­terialen Werk- oder

Lebens-Umsatzes in den ab­strakt flottierenden Geld-Um­satz der Börsenspe­kulation auf der Jagd nach ma­xi­maler Rendite. Dane­ben melden sich hier und da Augenblicke von Durch­blick durch das vertrackte Spiel von Verlo­genheiten, von Zwei­fel und von einer Suche nach Umkehr. Doch Rapunzel hat sich verhexen und in einen Turm sperren lassen.

 

In der Ergänzung der Ausrüstungs-Qualität wer­­­­­den immer wieder allgierige Kurzschlüsse ge­gen schmerz­­­vol­­les Erwach(s)en bebildert und konkret erlebbar: Als Verblendung, als Be­schwich­­­­ti­gung, als Ge­wis­sen­­lo­sig­keit und ei­ne ins­ge­hei­­me Lust am ra­­san­ten Weg des Ver­kehrt-Hal­tens zu (fal­scher) An­er­ken­­nung, Zu­­ge­hö­rig­keit, Kar­riere, Lie­be und Ver­­sor­­gung.

 

Dabei gibt es 1987 noch ein klares Gegenbild, das die seltenen Augenblicke von Zweifel und Durchblick ins Werk zu setzen sucht, und hier in der Person des Va­ters von Bud - Carl Fox - immer wieder die Wege seines Sohnes kreuzt. Symbol­trächtig ist er als Flugzeugbauer (noch) im werktätigen Leben und seinen Herstel­lungswerken verhaftet, und er hat, wie es im Film heißt, einen Kom­pass in sich, der ihn durch das Leben weist. Dazu weiß er als Be­triebsrats­vorsitzender Stellung zu beziehen gegenüber der vermeintlichen Macht und erkennt die Täuschungen, denen sein Sohn verfallen ist. Doch all seine Ver­suche ihn aufzurütteln, um zu erwach(s)en, bleiben vergebens. Erst als kon­kre­te Betroffenheiten die Leere der ansonsten recht umgänglichen Ab­­strak­tionen durchkreuzen, d. h. als Gecko, ent­gegen seiner Beteuerungen, die Flug­linie, bei der Carl arbeitet und mit der dank Bud an der Börse schon große Ge­win­ne illegal eingefahren wurden, zu zerschla­gen im Begriff ist, beginnt Bud zu mer­ken, wo er sich hineinbegeben hat. Carl erleidet einen Herzinfarkt.

 

So gewinnt der unterschwellig drängende Zug in Richtung Einkuppeln für das Erleben der Zuschauer eine entschiedenere Gestalt. Das macht erlebbar, was es bedeutet, gegen das Auskuppeln anzugehen. Denn von nun an steht Bud (und die Zuschauer) alleine da und verliert alles, was er bis dahin so verkehrt errungen hatte. Selbst seine Freundin, die ohne jeden Glauben an die Liebe einst als eine Art Edel-Prostituierte Gecko befriedigte, um - wie Bud - einge­führt zu werden in die ‚große Welt‘ dieser Tage, und ohne Bud’s Wissen da­rum später an diese nächste ‚Generation Gecko‘ weitergegeben wurde, zieht von dannen. Eine zu schwierige Allianz. So bleiben nur ein Absturz und schließ­lich das Gefängnis. Dennoch entlässt uns der Film mit einem ungeheu­ren Hoffen auf Umbildung. Am Abgrund, so finden sich selbst Worte, zeige sich der wahre Charakter. Das Ge­fängnis berge in ei­ner ersten Fassung die Chance auf eine verrückte Rettung, auf eigene Wege. 

 

Das Spannende, ja geradezu Kunstvolle an diesem Film besteht darin, dass er diese tiefgehende finale Wendung in mehrfach gebrochener Weise im Erle­ben zu verankern versteht und sie dem Zuschauer so nachhaltig auf den ei­genen Weg mitgibt. Denn genau jene psychologische Tatsache, dass Filme in der Wirkungs­­­konsequenz die eigenen Lebensverhältnisse anstoßen und diese modellieren, wird hier besonders aufgegriffen und intensiviert, indem Film und wirkliches Leben ineinander über gehen. Vater und Sohn im Film sind zugleich Vater und Sohn in Wirklichkeit: Martin und Charly Sheen. Und vielleicht erin­nert der eine oder andere ein paar Jahre zuvor noch „Apocalypse Now“. Mar­tin Sheen war es dort, der dem Grauen ein Ende bereitete, d. h. psychologisch gesprochen den Urvater - die Allgier - getötet hat und so einer neuen Kultur­ent­wick­lung die Wege bereitet hat (vgl. S. FREUD in „Das Unbehagen in der Kultur“). Die Sehnsucht nach Umbildung und Neuanfang verbindet sich weiter mit Fragen der Generationenfolge. Auch Gecko, gespielt von Michael Doug­­las, lässt sei­nen ‚realen‘ Vater Kirk Douglas im Hintergrund aufwarten und uns an dem Strang mitziehen, der so gebunden wer­den will. 1987. Vielleicht zeigt „Wall Street 1“ uns auf diese Weise, warum in die­sen Jahren keine Finanzkri­se ausgebrochen ist? Hingegen…

 

…sieht die Welt 2010 offenbar anders aus als um 1987 erhofft. Schon das Plakat des Nachfolgefilms „Wall Street 2 – Geld schläft nicht“ bebildert geradezu eine feudale Be­tonie­rung. Wie ein Ölbild aus Herr­schaftshäusern kommt es daher, in denen Welt und Wirklichkeit von Generation zu Generation fast un­­verwandelt wie­ter gegeben wird. Und so geht es auch im Film wei­ter: Gecko kommt nach zwan­zig Jahren aus dem Gefängnis und alles bleibt, wie es war, wenn auch in lei­chten Abwandlungen. Zwar blin­zeln hier und da Hoff­nungen auf, die für einen geläuter­ten Ge­cko spre­chen, doch versanden diese schnell. Bud hat einen Nach­folger bekommen, Jacob, der ihm wie aus dem Gesicht geschnit­ten ist und Geckos Schwie­gersohn werden wird. Die Gestalt des Gecko hat sich vervielfacht, ja ‚nor­malisiert‘. Gier ist nun nicht mehr nur gut, wie es im ersten Film hieß, Gier ist le­gal. Und 2010 locken noch größere Gewinnspan­nen als 1987. So entfal­tet der fade wirkende Untertitel seine geheime Macht, denn die verhexende Macht des Geldes und der daran klebrig verbundene Seelenkomplex des Auskuppelns schlafen wahrlich nicht, so fade das Leben im Turm auf den zweiten Blick auch ist.

 

Psychologische gestaltet sich diese Ausbreitung zunächst als eine Steige­rung der verschiedenen Tendenzen aus, der großen Erwartungen, der Panik und selbst der Au­genblicke der Wahrheit. Doch verkehren sich die Hoffnungen auf Umbil­dung, auf vertiefte Einblicke und Zweifel in immer neue Reinfälle, Verklärung und (Mit-)Schuld und werden so verkehrt erneut festgehalten. Mit diesen Intensivie­rungen geht psychologisch ein gesteigertes Gleichmachen einher. Wir haben kein klares Gegenbild mehr. Das einzige Gegenbild, das zunächst Halt gibt, der Men­tor von Jacob, begeht symbolträchtig Selbstmord, als seine Firma von Ma­­chen­schaften nach Art des Gecko überrollt und an den Rande der Insolvenz ge­trieben wird. Er stellt sich nicht dem Kampf. Tochter Win­nie möch­te einer­seits zwar nichts mit ihrem Vater und seinem Geld zu tun haben. Andererseits aber hat sie sich mit Jacob wohl kaum zufällig einen Partner ausgesucht, der als Bör­sen­­spekulant Kontakt zu Gecko sucht und in seine Fuß­stapfen zu treten giert, wenn auch kulti­viert verpackt als Demonstra­tion eines gut gemeinten, im Grunde jedoch un­mög­lichen Versöhnungsanlie­gens zwischen Vater und Toch­ter. Daneben möch­­te Ja­cob eine Firma auf die Beine stellen, die sich der Erforschung alternativer An­triebs­ener­gien widmet, was wie ein Symbol für die ins­geheime Suche nach einer anderen Aneignung  als der unbewussten Allgier anmutet und der ‚verhexten Freiheit‘ seiner Zeit zu entrinnen trach­tet. Dazwischen ein Gemälde von Goya aus seiner schwar­­zen Reihe, das maßlose Gier ins Bild rückt: Saturn frisst seine Kin­der. Doch all das bleibt für die Zuschauer in einem starren Nebeneinander hängen und wird nicht über die An­sätze hinaus ausgeformt in eine Komplexentwicklung. Ein­zig das Ultraschallbild seines Enkels vermag dann noch einen echten Ruck in das Ganze zu bringen und, zumindest bei Gecko, für einen Mo­ment die hochge­zogenen Mauern zu durch­­­­brechen, was den Blick auf Grundfragen unserer Exis­tenz freilegt. Er gibt seiner Tochter die 100 Millionen Dollar zurück, natürlich von sei­ner Rendi­te, um die er sie trickreich gebracht hatte, um selber wieder ins Ge­schäft zu kom­men. Diese fließen jetzt in die Erforschung alternativer Energien. Derweil wird der heranwa­chsende Enkel zu einem Hoff­nungs­träger. Doch der Ge­­samtkomplex will nicht so recht tragen und ver­liert sich im letzten Partybild.  

Das ergänzt sich schließlich mit einer Ausrüs­tung, die die Generationenfolge in unbewussten Wiederholungszwängen gefangen hält.

 

Als dennoch mögliche Umbildung in Richtung Einkuppeln zeichnet sich über die Wirkungsge­stalt von „Wall Street“ im Erleben der Zuschauer zaghaft und dif­fus ein ver­rücktes Ganzes ab. Ein Sinnzusammenhang, der in den Zu­spit­zun­gen der so­genannten ‚Finanzkrise‘ sowohl Symptom, als auch Selbst­be­hand­­lungs­­­tendenz der unbewusst abgewehrten Kulturdramatik erkennt.

 

Auch wenn Oliver Stone insgesamt sicher kein psychologisch elaboriertes Werk geschaffen hat, so hat er doch der Gegenwartkultur ein Denkmal ge­setzt und sie als das abgedreht, was sie wirklich ist.     

 

Werbebrief „Junge Freiheit“ – Versuche ins Einkuppeln !?

 

Das bislang erarbeitete Bild unserer Kultur lässt sich praktisch allerorts verfol­gen, erweitern und ergänzen. Ein besonders brisantes Thema ist dabei nicht zuletzt das der Inter- bzw. Transkulturalität, so wie es sich im Alltag abzeich­net. Hier schlägt, so lässt sich bereits im Vorfeld vermuten, entlang unerwarte­ter Begeg­nungen mit Andersartigem, Fremdem so etwas wie die Stunde der Wahrheit. Doch schlafen die (all­-) macht­vollen Mechanismen des Auskuppelns auch hier nicht. Ein kulturmorphologischer Blick lohnt sich allemal.

 

Wie die folgenden Folien über die blauen und roten Stiche am Rande des Tex­tes zeigen sollen, ist das spannungsvolle Zusammenspiel von Aus- und Ein­kup­peln auch im Werbebrief der Zeitung „Junge Freiheit“ zum Thema  „Was wir aus dem Fall Sarrazin politisch lernen“ am Werke. Vor allem die zu­meist un­be­wuss­ten In­halte des Einkuppelns drängen Satz für Satz sehr wirksam auf Aus­druck und wüh­len insge­heime Sehnsüchte nach Umbildung auf. Und da ist rich­­tig Pfeffer drin:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wenn wir den Text nun von oben nach unten verfolgen, so begegnen wir im Sinn des Einkuppelns der Reihe nach zunächst der psychologischen Tatsa­che, dass wir in einer märchenhaften Wirklichkeit leben, in der auch noch heut­zutage hexi­­sche Konstruktionen am Werke sind, die an konkreten Perso­nen festgemacht und dort bekämpft werden müssen. Anstelle von fundierten Auseinandersetzungen und Ver­ste­hens­­pro­zes­sen stehen kurze, ja im Grunde kurzschlüssig verkehrte Hexenprozesse und die Vernichtung des Hexischen in Gestalt der als Hexe de­signierten Person.

 

Wir erfahren weiter, dass sich im Zuge der allgemeinen Ausbreitung dieser Me­­chanismen unsere Kulturideale verkehrt haben und sich Einheitswächter in unse­rer nur scheinbar noch offenen Welt haben einrichten können, die ge­genüber vermeintlichen Abweichlern ausrücken und die Einhaltung ihrer star­ren Korrekt­heiten geradezu alternativlos einfordern (können).

 

Dazu werden Spaltung und Heuchelei beklagt und in ihrer Wirkung konse­quent als Ausdruck und Folge einer gescheiterten Kulturrevolution verstanden, die un­verarbeitet blieb und so als liegengelassenen Hintergrund unserer heu­tigen Kultur Lebenslügen hinterlassen hat, die es zu verdecken gilt. Zugleich aber werden diese ungebrochen tradiert, in im Grunde unbewussten Wieder­holungszwängen mit nun um­ge­kehr­tem Vorzeichen.

 

Weiter im Text: Über Jahrzehnte hinweg haben sich so Vereinseitigungen er­­halten und zu Ideologien eines „Alles geht“ verfestigen können, die die Men­schen zu beschwich­tigen verstehen und über ihr Gleichmachen einen diffe­renzierteren Blick verstellen. Wie im Film „Wall Street“, hat sich also ein ver­heißungsvoller Traum vom Leben ver­kehrt in ei­nen Albtraum und wird über Demonstrationen des schönen Scheins immerfort verkehrt gehalten. Doch auch das Ver­dräng­te sucht nach Ausdrucks- und Verwandlungsmöglichkeiten und spitzt sich in seinen Ver­kehrungsgestalten explosibel zu: Gewalt, Miss­brauch und Sucht breiten sich aus und laufen zunehmend aus dem Ruder.

 

Dagegen gilt es entschieden anzugehen, wieder klar zu sehen und zu reden, ja sich mit den konkreten Dingen auseinanderzusetzen und neue Wege zu beschrei­ten. Und das heißt auch hier: Stellung beziehen.

 

Schließlich kommen noch geheime Sehnsüchte oder Genüsse zur Sprache, die die Kultur heute durchziehen und in denen sich ein besonderer Schlüssel zum Verständnis der sich dramatisch zuspitzenden Verkehrungen zeigt.

 

An einem Gegenzwang, so der Text, werden wir damit nicht vorbei kommen, wenn wir dem stickigen Einheits­zwang der Zeit wirklich begegnen und diesen umbilden wollen. Nur indem wir unser Schweigen brechen, Widerstand leisten und end­lich erwach(s)en (werden), wird sich die lange mitgetragene Ver­damm­­nis aufbrechen und in Wahr­heit umkehren lassen. Der Wind beginnt sich zu drehen. In der so errungenen Befreiung vom Zeitgeist liegt eine wirkli­che Kulturre­vo­lu­tion, an deren Ende wieder Freiheit, Offenheit und fundierte Ana­ly­sen stehen.

 

Dergestalt entschieden von den schwelenden Wirkungsgestalten unserer Zeit auf­­gewühlt und psychologisch konsequent durch ihre Wendungen hin­durch­­geführt, ver­brei­tet der Werbebrief einen an­ge­neh­men, ja geradezu wohltuen­den Duft. Das bringt einen Sog mit sich, sogleich nach dieser politisch sehr rechts angesiedelten Zeitung greifen zu wollen.

 

Doch hält dieser Sog in der Vertiefung einer psychologischen Analyse nicht allzu lange an und will aufgrund der extremen politischen Haltung des Blattes zudem immer wieder zum Um­kippen gebracht werden. Ein zweiter Blick, so man ihn wagt, offenbart auch in diesem Text schließlich die vertrackten Ein­­wirkungen des Auskuppelns, die sich über ein Hin­ter­tür­chen einschleichen: Die einerseits selbst formulierten Mecha­­nismen der unbewusst abgewehrten Kulturdramatik werden zugleich blind a­giert, was noch einmal mit Nach­druck die (All-)Macht unbewusster Bild-Ab­spal­tungen betont.

 

Spätestens an dem Punkt, den ich mit dem ersten roten Strich markiert habe, an dem es explizit um Verantwort­lich­keiten und Schuld geht, die den sich ex­plosiv zuspitzenden Kulturentwicklungen zugrunde lägen und allzu gerne un­terschlagen würden, kommt eine gänzlich an­de­re Wucht ins Spiel. Sie beginnt die Wucht des Duftes der zugleich versprühten Wirkungszusammenhänge und die Sehnsucht in Richtung Umbildung zu über­­lagern und sich mehr und mehr in den Vordergrund zu schieben. Denn die Kriminalisierung von Auslän­dern, und damit einhergehend eine einseitige Zu- bzw. Festschreibung von Ursache und Wirkung, ermöglicht die im Aus­kuppeln unbewusst ‚normalisier­ten‘ Prozesse des Verschie­bens und Um­schul­dens anzustoßen und diese weiter loszutreten. Ohne hier die Aufgeklärtheit unserer Gesellschaft in Frage zu stellen, die kurz zuvor als nur scheinbar noch umgesetzt beklagt wurde. Das löst eine wahre Flut von scheinbar eindeutigen und zweifelsfreien Ver­schie­bungen aus, eine Ab­wehr­maschinerie, die uns das Aus­maß der unverar­beitet abgespaltenen Uner­träg­­lich­kei­ten und Nöte unserer Zeit erahnen lässt.

 

Wenn man das systematisch zerlegt, könn(t)en wir Zeugen eines wei­teren, im Nebeneinander unbemerkt agierten Hexenprozesses werden:

 

Dabei wird zunächst deutlich, dass unsere bereits intrakulturell ungestalteten Ab­spaltungen des Anderen, Fremden überhaupt sich hier unbewusst verbun­den haben mit den zumeist offensichtlich daherkommenden Eigenheiten vieler Mi­­grant­en, die uns als Andersheiten erscheinen, und somit dort verortet, per­­sonalisiert und bekämpft werden können und müssen. Der Mechanismus des Gleichmachens verhindert auch hier einen differenzierten Blick auf das Ganze und lässt ein jede Möglichkeit von Entwicklung und Verwand­lung, die diese span­nungsvollen Er­gän­zun­gen des je Anderen zum Eigenen unabdingbar zur Voraus­setzung hat, im Ansatz versanden.

 

Dergestalt selbstgerecht verkehrt geht es dann weiter, indem diese Flucht vor der eigenen Entwicklungsarbeit nochmals verschoben wird. Und erneut sind Auslän­der eine vermeintlich geeignete Zielscheibe des Auskuppelns. Denn sie erfahren an Leib und Seele, was das Verkehrt-Halten des Verhältnisses von eigen und anders konkret heißt: Die leidvolle Verweigerung einer Begegnung und Auseinan­dersetzung von Mensch zu Mensch, wodurch sich die möglichen Erwartungen bei der Gestaltung ihrer neuen Welt verkehren (müssen), und nicht Entwicklungswer­­ke, son­dern Verkehrt-Halte-Werke das Halt und Gestalt suchende Bild auszufor­men drohen und verdunkeln. Sucht, Gewalt, Miss­brauch etc., als im­ma­nen­te Struk­turen unserer Kultur, sowie Armut und Be­dürftigkeit können jetzt an Auslän­dern festgestellt, als gefürchtete Anomie, d. h. als Unfähigkeit zur Anpassung rati­onalisiert und mit ihnen ausgestoßen werden. Abschiebungen erscheinen diesen Kurzschlüssen zufolge eine legiti­me, ja durchaus vernünftige und dazu verführe­risch einfache Lösung, die, tie­­fer betrachtet, die explosiven Betonierungen der Zeit jedoch noch verstärken.

 

Jenseits des Ausstoßens ergibt sich innerhalb einer Auskuppelkultur im Grun­de nur eine mögliche ‚Lösung‘. Integration heißt demnach vor allem einseitige Assi­milation an unsere ungebrochen gepriesene ‚Leit­kultur‘ (als nómos), zu der es keine Alternative gäbe, ohne dass jemand weiß, warum. Nicht etwa ein Verwand­lungsbild, als Ganzes, ein Einlassen auf das Leben von Existenzver­hältnissen und ihren psy­­cho­logi­schen Verwandlungsbedingungen und –ge­­setzen her, keine ge­mein­­­sa­me Ver­wand­lung im Austausch und entschieden geführte Bilder-Kämpfe können so ‚gedacht‘ werden. All das prallt an den ins­geheim stets trennenden, d. h. niemals ihrerseits integrieren und anerkennen wollenden Zurecht­ma­chu­ngen und ihren abstrakt demonstrierten Bollwerken ab. Selbst der unablässige Stolz dieses Turm-Daseins und die damit einher­gehende Einseitigkeit und Star­re des gemeinsamen Lebens wird verschoben und beim Ausländer ausgemacht.  

 

Inwieweit hier eine unbewusste Leitkultur mit im Spiel ist und das Ganze in de­struktiver Weise von unbewussten Diktaten her aufzieht und durchformt, die mit aller Macht und gar Gewalt nicht ihrem Schatten begegnen wollen, mag ein dop­pelter Blick jetzt vielleicht aufgreifen. Wieder und wieder suchen sich Erfahrungen des Scheiterns, Verkehrens, unerträg­liche Ohnmacht, tiefes Leid und Verwun­dung, und somit ein unbewusstes Ressentiment trick­reich zu ver­wandeln in Macht, Erhabenheit und dementsprechende Rationalisierungen. Doch ist das so Errungene psychologisch gebaut aus Ansprüchen auf Allmacht, aus Schein-Macht und Illusion, und entpuppt sich bei genauerer Be­trachtung als ein unmögliches Blendwerk.

 

Als ein zentraler Schlüssel zum Verständnis der sich dramatisch zuspitzenden Entwicklungen der Gegenwart kommen auch im Text geheime Sehnsüchte oder Genüsse zur Sprache, die die Kultur durchzögen und die sich daran er­freuten, dass muslimische Einwanderung die deutsche Gesellschaft untergrü­ben. Erneut vermag hier nun ein zweiter Blick das Gleichmachen und seine unbemerkten Wir­kungskon­sequenzen zu erkennen, die sich weiter zuspitzen und tatsächlich Ent­schei­dendes offenbaren. Denn abgesehen von der klamm­heimlichen Verschie­­bung von bislang nationalstaatlich ausgemachtem Aus­ländischem auf reli­giöse Zugehörigkeiten, weiß eine morphologische Zer­le­­gung dabei die diversen Ten­denzen der Zeit aufzudecken. Was also steckt dort drin? Die unbewusste Lust des Auskuppelns am Verkehrt-Halten? Sucht sich indes ein unbewusstes Angeeignet-Worden-Sein von Etwas Ausdruck zu verschaffen, das unsere Kultur untergräbt? Etwa vom Hexischen, seinen un­bewussten Einheits-Diktaten (Fundamentalis­men), oder verschoben, persona­lisiert und ab­gewehrt auf Kosten der Ausländer bzw. ihrer Religion? So wahr das auch dort manchmal sein mag. Doch auch die Umbildungsseite bildet sich zaghaft ab, so als könne es selbst hier noch eine ver­rückte Rettung geben, die im jeweils Aus­gestoßenen zugleich die (Er-)Lösung sehen und diese angehen kann, was mal ausgekuppelt nach außen verlagert werden muss, mal als ein immanentes Gefüge erkannt werden kann, in das wir alle verwickelt sind? In dieser diffusen Verdichtung des Briefes bleiben diese Hoffnungen jedoch un­möglich um­zu­setzen und in Spaltungen hängen.  

 

Welche Ungeheuerlichkeiten und Schattenseiten diese Spaltungen konkret zu bannen trachten, wird auch in diesem Kulturwerk deutlich: Nämlich, dass wir sel­ber herstellen und bis hin zu biologistisch festschreiben, was wir zu be­kämpfen meinen, und dass sich unsere Ideale im Zuge dessen verkehrt ha­ben. Dass manch eine Lebenslüge darüber wacht, dass sich das Leben nicht wird weiterdre­hen können und dass wir genau das insgeheim wollen und ge­nießen. Und dass all das auch hier Hintergründe, Genese und Sinn hat.

 

Ein gelingendes Zusammenleben von verschiedenen Kulturen, das sich jen­seits von allerlei Missverständnissen, falscher Harmonie, Anschuldigung, Ideo­logie und (ver­deckter) Ge­walt vollzieht, setzt voraus, dass diese verdrängten Zu­sam­men­hänge ans Tageslicht geholt, ausgetauscht und entschie­den durch­­gemacht werden können und dürfen. Jenseits also von rechts und links, in den Grenzen des Möglichen und auf allen Seiten. Eine wahrlich nicht einfache Aufgabe für die Zu­kunft.

 

Dagegen erweisen sich Stimmen, die Multikulti für gescheitert und tot erklären, erneut als weit einfachere Kurzschlüsse, die sich nachhaltig aus der Verant­­wortung stehlen. Denn sie opfern mögliche, wenn auch zweifelsfrei mühsam und unbequem zu erklimmende Zukunftsvisionen, ja im Grunde Un­um­gäng­­lich­keiten, zugunsten des ewigen Erhalts von unmöglichen (Seelen-)Wel­ten, in de­nen wir uns tiefer und tiefer festsetzen. Gleichsam auf der Flucht ist indes auch die scheinbare Gegenseite, die entlang ihrer Kurzschlüsse allerorts die Be­rei­cherung durch Migration preist, das Bestehen von Parallelkulturen gera­dezu leugnet und ein gelingendes Zusammenleben als bereits oder nahezu realisierte Normalität konstatiert, d. h. erneut Verschiedenheiten, Unstimmiges und Leid im Gleich­­machen wegwischt. Wie der Werbebrief selbst herausstellt, wird auch hier über einseitig verfestigte Ideologien eines „Alles geht“ und, auf den zweiten Blick, eben nur geheuchelter Offenheit die tiefere Kulturdramatik unangetastet verkehrt gehal­ten, wodurch sich das Leben, anstelle von Totali­tarismen befreit zu werden, völlig unbemerkt verkehrt hat in jenen heute er­lebbaren Albtraum. Zwei Seiten ein und derselben Medaille.

 

Zu guter Letzt erfahren wir derart aufgelöst, dass, wer sich auf seinem persön­­lichen Lebenswege den notwendigen Bilder-Kämpfen zu stellen beginnt und hier und da mühsam die selbst versperrten Wege frei zu räumen versteht - dass da etwas herauskommt, das irgendwo im Dazwischen steckt. Ja, dass sich mit der Zeit etwas Neues, Anderes, noch Unbekanntes entwickelt und als solches weiter­drängt. Nicht das immer gleiche, bekannte, alte und ewig ge­wohnte Deutschland, das (nicht nur) Sarrazin so verkehrt fest­zuhalten sucht, um seiner Verblendungen nicht gewahr werden zu müssen, die kaum, wie im Text demonstriert, die Wahr­heit auszusprechen in der Lage sind.

 

Zusammengefasst baut sich quer durch diesen Brief also Stein um Stein jener Turm auf, in dem unsere Kultur wie Rapunzel festsitzt. So verkehrt sich die am Ende versprochene neue Kulturrevolution, die Frei­heit, Offen­heit und fundierte Analysen wider Hinrichtungs­jour­na­lismus zu verwirklichen wis­se, in ihr be­kämpf­­tes Gegenteil. Statt der konsequenten Befreiung vom Zeit­geist bleiben trotz aller guten Vorsätze, die das unter den Tep­pich Gekehrte offen zu legen  suchen,  selbst  bei  der  Zei­tung  „Junge Freiheit“  leider nur  die ‚verhexte  Freiheit ‘ und kaum  mehr als  leblose

Blasen. Und doch ein echter Anstoß.  

 

Psychologische Morphologie als Überlebens-Kunst

 

Wie hoffentlich zunehmend verständlich wurde, zeigt die systematische Ana­lyse von Wirkungseinheiten konkrete Zusammenhänge auf. Auch da, wo sie uns nicht be­wusst sind. Die Psychologische Morphologie wird so zu einer sel­tenen Kunst im Umgang mit den vielgestaltigen Phänomenen der gegenwärti­gen Kultur, ja tat­­sächlich zu einer Kunst des Überlebens inmitten schwieriger und zugleich zu einer Kunst wider diese Zeiten voller Tücken, wie anfangs ge­­fragt. Und darin liegen auch die tiefgreifenden Beweggründe, die die Entwick­lung der Psychologischen Morphologie als Wissenschaft überhaupt angetrie­ben haben.

 

Entgegen der fortschreitenden Zersplitterung und Spezialisierung von Alltags­­­welten ermöglicht sie es uns, das Leben noch vom ganzen her in Augen­schein zu nehmen und so Zusammenhänge ins Bild zu rücken, die uns allen, als Kultur, ei­­nen klaren Schubs in Richtung einer fruchtbareren Zukunft geben könn(t)en.

 

So ergeben sich schließlich die entscheidenden Fragen, die wir uns als Morphologen werden stellen müssen, so wir diese vielverspechenden Po­ten­tia­le ausspielen und auch heute noch die Dinge des Lebens anders sehen und entwickeln wollen:

 

  • Wie nahe kommen wir an unsere Überlebens-Kunst wider die Tücken der Zeit noch heran im Jahre 2010?

  • Wissen wir überhaupt um diese, unsere Kunst? Gelebt? Umkämpft?

  • Wagen wir die entscheidenden Schritte zu gehen? Auch im Angesicht der leidvollen Abwehr des Auskuppelns?

  • Inwieweit werden wir von den unbewussten Diktaten der Zeit angeeignet und halten so unseren Gegenstand verkehrt?

[i]  Ausarbeitung eines Vortrags von Dr. Claudia Pütz bei der Tagung „Psychologie als (Überlebens-)Kunst“ der Gesellschaft für Psycho­logische Morphologie (GPM) am 5. De­zember 2010 in Köln.

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