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Überlebens-Kunst wider die Tücken der Zeit:
Von „Wall Street 1 & 2“ zu „Junge Freiheit“?[i]
Überlebenskunst wider die Tücken der Zeit? Das setzt eine fundierte Kenntnis der Wirkungszusammenhänge voraus, die die gegenwärtige Kultur, die wir in der Morphologie als Auskuppelkultur beschreiben, durchformen. Es geht also um Kulturpsychologie. Und die gibt es nur im konkreten Umgang. Wie aber wird dieser zu einer Kunst des Überlebens inmitten schwieriger und zugleich wider diese Zeiten?
Ich möchte daher im Folgenden einen groben Einblick vermitteln in das diffizile Spannungsfeld von Auskuppeln und Einkuppeln indem ich diese Strukturbildungen an zwei konkreten Auslegungen verfolge:
1987 drehte Oliver Stone den Film „Wall Street - Jeder Traum hat einen Preis“, der durch die Finanzkrise unserer Tage eine besondere Aktualität erfährt. 2010 kam so ein Folgefilm auf unsere Leinwände. Indem ein junger, ehrgeiziger Börsenmakler in die vielversprechenden Fänge des Spekulationsgeschäftes, seiner Blasen und Manipulationen gerät und schließlich den Konsequenzen seiner Taten in die Augen schauen muss, wird das Auskuppeln hautnah erlebbar. In den Entfaltungen dieser Auswüchse bis zum Jahre 2010 werden die Entwicklungen dieses Erlebenskomplexes psychologisch konsequent über die letzten Jahrzehnte verfolgt.
Auf der anderen Seite, d. h. als Versuch des Einkuppelns, möchte ich - etwas provokativ - einen Werbebrief der Zeitung „Junge Freiheit“ behandeln, der unter dem Titel „Was wir aus dem Fall Sarrazin politisch lernen“ im September 2010 an viele Haushalt verschickt wurde. Dabei lohnt es sich hier mal genauer hinzuschauen, zumal wenn es darum geht, jüngere Phänomene von Rechtsruck bis hin zu Rechtsradikalismus verstehen zu wollen.
In besonderer Weise wird in all dem deutlich werden, wie sehr die sogenannte ‚Finanzkrise‘ verbunden, ja im Grunde gleichzusetzen ist mit einer umfassenden Kulturkrise, in der wir alle feststecken, und diese zugleich eine Krise der (Tiefen-)Psychologie heute ist:
Finanzkrise = Kulturkrise = Krise der (Tiefen-)Psychologie
Wirkungseinheiten der Gegenwartskultur (Morphologische Hexagramme)
Zur Analyse ist ein Konzept erforderlich. Das Hexagramm ist ein Modell der Morphologischen Gegenstandsbildung, das die jeweils wirksamen Ausdrucksprozesse als eine lebendige ‚Geometrie‘ von Gestaltbildungen veranschaulicht. Diese fügt sich zu einem sinnvollen Zusammenhang in sich, zu einer Wirkungs-Einheit von umfassenden Werken. Das Ganze einer Kultur und ihre Entwicklungen werden erfahrbar als sinnlich-materiale Produktionsprozess des Seelischen - als Unterhaltungen der Wirklichkeit. Konkret erfasst werden diese vielgestaltigen Spannungsgefüge, die uns zumeist nicht bewusst sind, indem sie auf den Boden von sechs Werk-Bedingungen gestellt werden:
Die folgende Folie soll einen Überblick geben, der auf viele Jahre empirischer Forschung gründet. Dabei werden die beiden Tendenzen der Gegenwart, das Auskuppeln, d. h. ein beliebiges „Alles geht“, und das Einkuppeln, d. h. ein entschiedenes Bild für unser seelisches Überleben, als eine Zwei-Einheit im Sinn einer Gegensatz- oder Ergänzungs-Einheit dargestellt. Das eine kann ohne das andere nicht existieren; Beides ist stets irgendwie im Spiel unseres Alltags wirksam. Doch so tiefgreifend diese Tendenzen miteinander verstrickt sind, so wenig wollen sie in unserer Kultur miteinander in Austausch treten und lieber in Spaltungen verharren. Das Auskuppeln will das Einkuppeln verdrängt halten. Das Gestrichelte des hinteren Hexagramms soll diese ‚Produktionsstörung‘ unserer Zeit zum Ausdruck bringen, in der sich das Hauptbild gegen sein Nebenbild und seine drängenden (Verwandlungs-)Inhalte stemmt.
Beginnen wir bei der Aneignung. Diese wird im „Alles geht“ des Auskuppelns bestimmt durch eine unbewusste All-Gier. In Folge dessen bildet sich psycho-logisch eine Wirklichkeit aus, die sich als ‚verhexte Freiheit‘ beschreiben lässt. Tiefer geschaut steckt dahinter eine Vielzahl von missglückten Vergangenheitsbewältigungen, welche, diffus miteinander verschmolzen, unserer tiefverwundeten Kultur ein unbewusstes Erbe hinterlassen hat. Das ergänzt sich mit einer Umbildung, die - wie die Pfeile zeigen - im Grunde keine Umbildung ist, sondern durch Verkürzungen in Demonstrationen von Offenheit, Vielfalt und Gleichheit mündet. Dass diese nicht gelebt werden (können) und nichts als leere Floskeln sind, die heutzutage jedoch zum guten Ton gehören, zeigt sich spätestens, wenn die (Verwandlungs-)Inhalte des Einkuppelns und ihre Überlebensbilder ins Spiel gebracht werden. Denn alles geht eben nicht, alles ist zugleich nichts und kaum gleichwertig mit einem entschieden gelebten Etwas, das seine Versprechen hält. Dann bestimmen entlang uneingestandenem Verwandlungsneid Abwehr und Abwertung dieser entlarvenden Sichtweisen, Fragen und Zweifel das Feld, während in der Spaltung zugleich voller Stolz an den schönen Demonstrationen festgehalten wird. Genauer betrachtet verbirgt sich darin also ein unbewusstes Ressentiment, das vor tieferen Auseinandersetzungen mit sich und der Welt flieht, und das Grundverhältnis von eigen - anders/fremd unantastbar hält, d. h. dieses, wie wir in der Morphologie sagen, verkehrt hält. So verkehrt sich der lebendige Austausch dieser beiden sich ergänzenden Seiten unserer Wirklichkeit in ein diffuses Gleichmachen, in leblose Abstraktion, falsche Harmonie und strenge Formalisierung, Ritualisierung etc., um die explosiblen Verdrängungen zu bändigen. Verschiedenheit und Widerspruch können entgegen der Demonstration kaum ertragen werden. Wie ein Bollwerk stemmen unbewusste Zwänge sich gegen das Leben, wie es wirklich ist. Als Bild eignet sich hier der Turm im Märchen Rapunzel, in dem Rapunzel von einer machtvollen Hexe festgehalten wird: erhaben, scheinbar perfekt umsorgt, aber blass, ja leblos und ohne Ein- noch Ausgang, abgekapselt von der konkreten Lebenswelt, seinen Leiden, seinen Kämpfen.
Die Umbildung des Einkuppelns, die hier zur Befreiung Rapunzels aus seiner ‚verkehrten Welt‘ führen würde, unterstützt das Angehen wider die Verkehrungen bzw. das Verkehrt-Halten (Neurose); und sucht die Abstürze aus dem Turm in die Ungeheuerlichkeiten unserer Zeit, ins Erwach(s)en aufzufangen. Damit einher ginge eine umfassende Seelenrevolution (vgl. SALBER 1993), in der irgendwann einiges auf den ‚Bürger‘ zukommen wird. Davon aber sind wir heute weit entfernt. In seltenen Augenblicken nur können wir die Spaltungen mal überschreiten. Doch allein über derart einschneidende Ereignisse und langwierige Entwicklungsprozesse wird sich das Festsitzen nachhaltig verwandeln lassen in ein neues, anderes und tragfähigeres Leben. In offene, ‚unverhexte‘ Kulturbildungen, die unvermeidlich riskant, leidvoll und unvollkommen sein und bleiben werden. Das ergänzt sich wiederum mit einer Aneignung voller Unruhe und märchenhafter Wegweisungen und umschließt so den großen Kreis menschlicher Verwandlungswerke und Kultivierung. Märchenhafte Wegweisung meint demnach nicht verdrängende, mit Störungen zurechtkommende Produktionsprozesse, d. h. eine funktionierende Selbstbehandlung des Seelischen, die nicht von unbewussten Bild-Abspaltungen ins Auskuppeln und seine leeren Demonstrationen getrieben wird.
Die Einwirkung des Auskuppelns ist bestimmt von den unbewussten Widerständen gegen das Erwach(s)en. Dabei sind es ausgeklügelte Trickkisten des Still(-leg-)ens, die über scheinbar ewige Unschuld und Vollkommenheit wachen. Paläste des Um-schuldens ragen so aus dem Boden und versinnlichen nochmal etwas anders die aufwendigen Zurechtmachungen und Rationalisierungen, die zwanghaft verdecken und verschieben müssen, was sich jenseits des schönen Scheins zu zeigen wagt. Zentraler Mechanismus derart umfassender Blendwerke ist wieder und wieder das allgierige Gleichmachen im Sinn eines undifferenzierten In-Eins-Rückens von Verkehrungs- und Entwicklungsgestalt und anderer Existenzverhältnisse, wodurch die immanenten Zusammenhänge nicht gesehen und diese Wirklichkeiten nicht umgebildet werden können. Die unbewusste Sehnsucht der Auskuppelkultur nach All-Macht, All-Besitz, sowie kindlichem Gehorsam und Gewissenlosigkeit verquirlen hier zu einer selbstgerechten Allianz besonderer Art. Das ergänzt sich mit einer Anordnung, die sich aus den Vereinseitigungen der Bildinflation und der so erwirkten Zerstückelung unserer Lebenswelt psychologisch ergibt: Eine zurechtgemachte ‚Realität‘ triumphiert wegweisend über die Wirklichkeiten unseres Alltags und ordnet diese tief und polar bewegte Seelenlandschaft im Stil eines Getrennt-Haltens. Eine Vielzahl von selbstverständlich gewordenen und nicht weiter hinterfragten Dualismen der Abstraktion durchzieht unser ‚Denken‘: Vernunft – Glauben, rational – irrational, innen – außen, Subjekt – Objekt, Kultur – Individuum, Freiheit – Determination etc..
Dagegen wagt die Anordnung des Einkuppelns den Blick auf das verrückte Ganze, das sich als ein spannungsvolles Gefüge voller Seltsamkeiten, Ur-Bilder und Paradoxien gegen das Auskuppeln zum Ausdruck zu bringen sucht. Dem entspricht in der Morphologie die Kategorie des Indem. Ein versatiles System, das mit Nichts zu Stoppen oder aus der Welt zu schaffen ist, so sehr das Auskuppeln es versucht. Eigenartige Gestalt-, Werk- und Bild-Gesetze sind es, die diese kunstvoll drängenden Gestaltbildungen bewegen und sich so als die entscheidenden Beweger unserer psychologischen oder besser psychästhetischen Ordnung von Wirklichkeit qualifizieren. So gesehen wird die Einwirkung im Einkuppeln zum Produktionsprozess eines Seelischen, das diese Schicksalsgestalt(-ung-)en und ihre Verkehrungen, als Heuristik (HR), im doppelten Sinn leiden kann, anstelle vor diesen zu fliehen. Im lebendigen Austausch mit einer Vielzahl von menschlichen Existenzverhältnissen (Zwei-Einheiten) und ihren möglichen Wendungen (er-)wächst, was in der jeweiligen Zeit und unter den historischen Bedingungen werden will, was es ist.
Über die Ausbreitung und ihrer Erlebensqualitäten entfalten sich die ‚Dinge‘. In der Wirkungskonsequenz der unbewussten All-Gier des Auskuppelns verkehren sich aber die stolzen Ideale mehr und mehr: Offenheit wird zu Geschlossenheit, Freiheit zu Gefangenschaft, Vielfalt zu Einfalt, Aufklärung zu Verklärung, Demokratie zu Diktatur, Fortschritt zu Stilllegung, Sehnsucht zu Sucht, Liebe zu Abhängigkeit, Zwang etc.. Die großen Erwartungen unserer Kultivierungen bringen große Panik mit sich. Haltlosigkeiten breiten sich aus und hier und da kommen zaghaft Fragen auf, ob sich die möglich erscheinenden Werke vielleicht in unmögliche Blendwerke verkehrt haben? Da Spaltung und Leugnung weiter das Feld beherrschen, werden die Verkehrungen in Kurzschlüssen festgehalten. Das Verdrängte bleibt jedoch nicht untätig. Symptombildungen melden sich zugleich, ohne dass ein in sich stimmiger Sinnzusammenhang hergestellt werden kann: Krankheiten, Verständnislosigkeit, ‚Aufmerksamkeitsdefizite‘, Mobbing, unbändige Wut bis hin zu Amokläufen, aber auch Überkorrektheit, Übervernunft und allerlei Moralisierungen sind Umgangsformen mit den Phänomenen der Zeit. Diese ergänzen sich mit einer Ausrüstung oder Verfassung unserer Kultur, die in ihren unbewussten Gefangenschaften immer weiter auf das verführerisch still(-leg-)ende Hamsterrad des Gewohnten, scheinbar Bewährten und Errungenen schwört und mit der steten Verfeinerung dessen, sowie kleinen Abwandlungen experimentiert. Mit grundlegenden Reformen hat sie es nicht. Das umreißt eine Art ‚schöne verkehrte Welt‘, eine ‚normalisierte‘ Weltsicht, Betriebsamkeit, sowie dementsprechende Klagen, Verdrängungen und Projektionen als (Zusammen-)Halt und Schutz. Anerkennung und Wertschätzung speisen sich aus der Einhaltung dieses Regelwerks, unserer unbewussten ‚Leitkultur‘, die sich zunehmend als ein unbewusst wirksames Einheits-Diktat entpuppt, das partout nicht seinem Schatten begegnen will und diesen anderswo bekämpfen muss. Zwischen den Demonstrationen von nahezu ungebrochenen Kulturidealisierungen, die das vordergründig glanzvolle Bild bestimmen, weiß auch der verleugnete Schatten sich auszubreiten und droht so das Gesamtbild zu verdunkeln bis hin zu kippen (s. o.). Tiefer geschaut zeigen sich darin nun Metamorphosen von einst Erlittenem, Verschuldetem und damit Gewalt aller Art, auch strukturelle Gewalt. Unbewusste Wiederholungszwänge „gebrochener Herzen“ bringen die Geschichtlichkeit unseres Seins, seine Genese, seine Mühen und seine Verwundungen ins Blickfeld. All das wird wie immer getrennt gehalten, im Nebeneinander angeordnet, und individualisiert behandelt.
Dagegen stellt die Ausrüstung des Einkuppelns einen Seelen-Reichtum im Austausch, ein entschiedenes Hinsehen und Mitbewegen, das Liegengelassenen, Aufgegebenes wieder und wieder aufzunehmen, sowie Verkehrtes zu zerstören weiß. Hier steht der Versuch einer offenen Begegnung von Mensch zu Mensch im Vordergrund, zwischen Menschen aus Fleisch und Blut, mit einer je eigenen Geschichte, einem eigenen Schicksal, das die Verkehrungen des Lebens, seine Leiden, sein Scheitern, seine Schuld, aber auch die Freuden und Triumpfe im Spiel hält. So sehr damit die Wiederkehr des Verdängten das Ruder in der Hand zu nehmen sucht und etwas wirklich Anderes, Neues möglich wird, das mit allen Sinnen ertragen und entwickelt werden kann, so werden gewisse Unstimmigkeiten, Behinderungen, Unvollkommenheiten nicht zu vermeiden sein. Das ergänzt sich mit einer Ausbreitung, die sich als Durchmachen und Umsatz ‚eigener‘ Verwandlungswerke in dramatischen Bilder-Kämpfen umschreiben lässt. Im Durchleben wird ein Zusammenhang in sich verständlich, der nachhaltig Halt gibt und so selbst der leidvollen Abwehr von Seiten des Auskuppelns (manchmal) stand zu halten vermag. Ein mühevolles Unternehmen. Das aber heißt auch: Stellung beziehen!
Und damit kommen wir zu jenen oben bereits erwähnten Ungeheuerlichkeiten des Einkuppelns. Denn das verrückte Ganze zeigt sich nun mit aller Härte. So wird deutlich, welche Inhalte es mit Entschiedenheit zu Felde zu rücken gilt, wenn wir eine Welt erkämpfen und gestalten wollen, die weniger (selbst-)zerstörerisch ist als die uns bislang bekannte: Wir müssen erfahren, dass wir selber herstellen, was wir zu bekämpfen meinen und uns so jedes Darüber Hinaus, jede wirkliche Offenheit selber verbauen. Dass wir zerstören müssen, wer oder was sich entschieden wehrt und neue, ehrlichere Wege geht. Dass wir einen Genuss empfinden an dieser, unserer Kulturneurose, die uns (noch) zusammenhält, dass wir es genießen zu zerstören, zu quälen, und selbst am Missbrauch uns heimlich erfreuen. Schließlich, dass all das einen Sinn, einen Hintergrund, eine Genese hat und auf ein kulturelles Erbe verweist, dem wir uns aller Beteuerung zum Trotz bislang nicht in aller Konsequenz zu stellen gewagt haben. Andererseits zeigt sich jedoch auch, dass die Rettung nur im Paradox zu haben ist, dass im gefürchteten Absturz und Zerfall, im Ausgestoßenen, im Fremden, im Verrückten und im zunächst blinden Herumirren und Herumprobieren irgendwann die Rettung liegt.
Ich denke, diese Ausführungen bringen zum Ausdruck, in welch tiefgreifender Kulturkrise wir uns befinden und mit welch ebenso tiefgreifender Methode wir demnach vorgehen müssen, um diese erfassen zu können: Eine hochkultivierte Massenflucht und Destruktivität bringt als geradezu ‚identitätsstiftende‘ Errungenschaft unserer Zeit ungeheure Gefahren mit sich, dem Leben ins Gesicht zu schauen. Dieses Hinschauen aber ist unser Geschäft als Psychologen, die wir in dieser Auskuppelkultur leben. Und darin begründet sich eine Krise der (Tiefen-)Psychologie, die zunehmend um sich greift. Zugleich verschwindet - kaum zufällig - an den Universitäten, den Kaderschmieden unseres Kulturstolzes, zunehmend alles, was mit Unbewusstem und Ganzheit zusammenhängt und wird als unwissenschaftlich abgestempelt. Verhängnisvollerweise. Nicht zuletzt spielt hier das beliebte postmoderne Denken des „Anything goes“ rein, dass jede Ganzheit zugunsten von Vielheiten verabschiedet, scheinbar um dem Terror von Totalitarismen zu entgehen. Psychologisch betrachtet aber wird dieser eben dadurch konserviert, als ein unbewusst wütender Verkehrungszwang, über den sich unmöglich, wie dennoch immerfort gepriesen, eine „offene Gesellschaft“ ausgestalten kann. Dorthin ist es noch ein langer, mühsamer Weg. Auch davon muss man etwas wissen, wenn man an den Film „Wall Street“ herangeht.
„Wall Street 1 & 2“ (USA 1987, 2010) – Filmisches Auskuppeln
Gerade Filme bieten einen ungewöhnlichen Zugang zu kulturellen Wirkungsgestalten und ihren Entwicklungen. Denn ihre bewegenden Bilderwelten sind zugleich die Sprache des Seelischen und werden so zu einen Medium für unbewusste Produktionsprozesse, in denen sich der dramatische Umgang mit den Verhältnissen der Wirklichkeit versinnlicht. Die Erlebens-Geschichten wissen also insgeheim von den Verwandlungs-Komplexen der Zeit zu erzählen.
Die beiden Filme „Wall Street 1 & 2“ (USA) von Oliver Stone aus den Jahren 1987 und 2010 versprechen daher in besonderer Weise Einblicke zu eröffnen in das Gefüge unserer von Krisen nur so geschüttelten Gegenwartskultur.
Beginnen wir mit der Geschichte von „Wall Street 1 – Jeder Traum hat einen Preis“: Ein junger Börsenmakler - Bud Fox - hat einen Traum. Er möchte ganz oben mitspielen, Karriere machen. Dafür lässt er sich was einfallen und sucht Kontakt zu einem der ganz Großen in New York, Gordon Gecko. Mehr und mehr gerät er dadurch in einen Sumpf von Gier nach Geld und Macht, in dem nahezu jedes Mittel recht ist, auch Börsenmanipulationen und Insider-Geschäfte. Völlig vereinnahmt von diesen unheilvollen Machenschaften landet er am Ende im Gefängnis. Doch er liefert Gecko mit aus.
Psychologisch entfaltet sich das Spannungsfeld zwischen Ausbreitung und Ausrüstung nahezu durchgängig als eine Erlebensgestalt des Auskuppelns.
Im Erleben von Ausbreitung erfahren wir Zuschauer, wie sich ein Traum in einen Albtraum verführerischer Unmöglichkeiten verkehrt. Das Auskuppeln rennt in der Geldabstraktion in fatale Enge. Das lässt sich weiter qualifizieren und ausgestalten in der Verkehrung und das Verkehrt-Halten eines sinnlich-materialen Werk- oder
Lebens-Umsatzes in den abstrakt flottierenden Geld-Umsatz der Börsenspekulation auf der Jagd nach maximaler Rendite. Daneben melden sich hier und da Augenblicke von Durchblick durch das vertrackte Spiel von Verlogenheiten, von Zweifel und von einer Suche nach Umkehr. Doch Rapunzel hat sich verhexen und in einen Turm sperren lassen.
In der Ergänzung der Ausrüstungs-Qualität werden immer wieder allgierige Kurzschlüsse gegen schmerzvolles Erwach(s)en bebildert und konkret erlebbar: Als Verblendung, als Beschwichtigung, als Gewissenlosigkeit und eine insgeheime Lust am rasanten Weg des Verkehrt-Haltens zu (falscher) Anerkennung, Zugehörigkeit, Karriere, Liebe und Versorgung.
Dabei gibt es 1987 noch ein klares Gegenbild, das die seltenen Augenblicke von Zweifel und Durchblick ins Werk zu setzen sucht, und hier in der Person des Vaters von Bud - Carl Fox - immer wieder die Wege seines Sohnes kreuzt. Symbolträchtig ist er als Flugzeugbauer (noch) im werktätigen Leben und seinen Herstellungswerken verhaftet, und er hat, wie es im Film heißt, einen Kompass in sich, der ihn durch das Leben weist. Dazu weiß er als Betriebsratsvorsitzender Stellung zu beziehen gegenüber der vermeintlichen Macht und erkennt die Täuschungen, denen sein Sohn verfallen ist. Doch all seine Versuche ihn aufzurütteln, um zu erwach(s)en, bleiben vergebens. Erst als konkrete Betroffenheiten die Leere der ansonsten recht umgänglichen Abstraktionen durchkreuzen, d. h. als Gecko, entgegen seiner Beteuerungen, die Fluglinie, bei der Carl arbeitet und mit der dank Bud an der Börse schon große Gewinne illegal eingefahren wurden, zu zerschlagen im Begriff ist, beginnt Bud zu merken, wo er sich hineinbegeben hat. Carl erleidet einen Herzinfarkt.
So gewinnt der unterschwellig drängende Zug in Richtung Einkuppeln für das Erleben der Zuschauer eine entschiedenere Gestalt. Das macht erlebbar, was es bedeutet, gegen das Auskuppeln anzugehen. Denn von nun an steht Bud (und die Zuschauer) alleine da und verliert alles, was er bis dahin so verkehrt errungen hatte. Selbst seine Freundin, die ohne jeden Glauben an die Liebe einst als eine Art Edel-Prostituierte Gecko befriedigte, um - wie Bud - eingeführt zu werden in die ‚große Welt‘ dieser Tage, und ohne Bud’s Wissen darum später an diese nächste ‚Generation Gecko‘ weitergegeben wurde, zieht von dannen. Eine zu schwierige Allianz. So bleiben nur ein Absturz und schließlich das Gefängnis. Dennoch entlässt uns der Film mit einem ungeheuren Hoffen auf Umbildung. Am Abgrund, so finden sich selbst Worte, zeige sich der wahre Charakter. Das Gefängnis berge in einer ersten Fassung die Chance auf eine verrückte Rettung, auf eigene Wege.
Das Spannende, ja geradezu Kunstvolle an diesem Film besteht darin, dass er diese tiefgehende finale Wendung in mehrfach gebrochener Weise im Erleben zu verankern versteht und sie dem Zuschauer so nachhaltig auf den eigenen Weg mitgibt. Denn genau jene psychologische Tatsache, dass Filme in der Wirkungskonsequenz die eigenen Lebensverhältnisse anstoßen und diese modellieren, wird hier besonders aufgegriffen und intensiviert, indem Film und wirkliches Leben ineinander über gehen. Vater und Sohn im Film sind zugleich Vater und Sohn in Wirklichkeit: Martin und Charly Sheen. Und vielleicht erinnert der eine oder andere ein paar Jahre zuvor noch „Apocalypse Now“. Martin Sheen war es dort, der dem Grauen ein Ende bereitete, d. h. psychologisch gesprochen den Urvater - die Allgier - getötet hat und so einer neuen Kulturentwicklung die Wege bereitet hat (vgl. S. FREUD in „Das Unbehagen in der Kultur“). Die Sehnsucht nach Umbildung und Neuanfang verbindet sich weiter mit Fragen der Generationenfolge. Auch Gecko, gespielt von Michael Douglas, lässt seinen ‚realen‘ Vater Kirk Douglas im Hintergrund aufwarten und uns an dem Strang mitziehen, der so gebunden werden will. 1987. Vielleicht zeigt „Wall Street 1“ uns auf diese Weise, warum in diesen Jahren keine Finanzkrise ausgebrochen ist? Hingegen…
…sieht die Welt 2010 offenbar anders aus als um 1987 erhofft. Schon das Plakat des Nachfolgefilms „Wall Street 2 – Geld schläft nicht“ bebildert geradezu eine feudale Betonierung. Wie ein Ölbild aus Herrschaftshäusern kommt es daher, in denen Welt und Wirklichkeit von Generation zu Generation fast unverwandelt wieter gegeben wird. Und so geht es auch im Film weiter: Gecko kommt nach zwanzig Jahren aus dem Gefängnis und alles bleibt, wie es war, wenn auch in leichten Abwandlungen. Zwar blinzeln hier und da Hoffnungen auf, die für einen geläuterten Gecko sprechen, doch versanden diese schnell. Bud hat einen Nachfolger bekommen, Jacob, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ist und Geckos Schwiegersohn werden wird. Die Gestalt des Gecko hat sich vervielfacht, ja ‚normalisiert‘. Gier ist nun nicht mehr nur gut, wie es im ersten Film hieß, Gier ist legal. Und 2010 locken noch größere Gewinnspannen als 1987. So entfaltet der fade wirkende Untertitel seine geheime Macht, denn die verhexende Macht des Geldes und der daran klebrig verbundene Seelenkomplex des Auskuppelns schlafen wahrlich nicht, so fade das Leben im Turm auf den zweiten Blick auch ist.
Psychologische gestaltet sich diese Ausbreitung zunächst als eine Steigerung der verschiedenen Tendenzen aus, der großen Erwartungen, der Panik und selbst der Augenblicke der Wahrheit. Doch verkehren sich die Hoffnungen auf Umbildung, auf vertiefte Einblicke und Zweifel in immer neue Reinfälle, Verklärung und (Mit-)Schuld und werden so verkehrt erneut festgehalten. Mit diesen Intensivierungen geht psychologisch ein gesteigertes Gleichmachen einher. Wir haben kein klares Gegenbild mehr. Das einzige Gegenbild, das zunächst Halt gibt, der Mentor von Jacob, begeht symbolträchtig Selbstmord, als seine Firma von Machenschaften nach Art des Gecko überrollt und an den Rande der Insolvenz getrieben wird. Er stellt sich nicht dem Kampf. Tochter Winnie möchte einerseits zwar nichts mit ihrem Vater und seinem Geld zu tun haben. Andererseits aber hat sie sich mit Jacob wohl kaum zufällig einen Partner ausgesucht, der als Börsenspekulant Kontakt zu Gecko sucht und in seine Fußstapfen zu treten giert, wenn auch kultiviert verpackt als Demonstration eines gut gemeinten, im Grunde jedoch unmöglichen Versöhnungsanliegens zwischen Vater und Tochter. Daneben möchte Jacob eine Firma auf die Beine stellen, die sich der Erforschung alternativer Antriebsenergien widmet, was wie ein Symbol für die insgeheime Suche nach einer anderen Aneignung als der unbewussten Allgier anmutet und der ‚verhexten Freiheit‘ seiner Zeit zu entrinnen trachtet. Dazwischen ein Gemälde von Goya aus seiner schwarzen Reihe, das maßlose Gier ins Bild rückt: Saturn frisst seine Kinder. Doch all das bleibt für die Zuschauer in einem starren Nebeneinander hängen und wird nicht über die Ansätze hinaus ausgeformt in eine Komplexentwicklung. Einzig das Ultraschallbild seines Enkels vermag dann noch einen echten Ruck in das Ganze zu bringen und, zumindest bei Gecko, für einen Moment die hochgezogenen Mauern zu durchbrechen, was den Blick auf Grundfragen unserer Existenz freilegt. Er gibt seiner Tochter die 100 Millionen Dollar zurück, natürlich von seiner Rendite, um die er sie trickreich gebracht hatte, um selber wieder ins Geschäft zu kommen. Diese fließen jetzt in die Erforschung alternativer Energien. Derweil wird der heranwachsende Enkel zu einem Hoffnungsträger. Doch der Gesamtkomplex will nicht so recht tragen und verliert sich im letzten Partybild.
Das ergänzt sich schließlich mit einer Ausrüstung, die die Generationenfolge in unbewussten Wiederholungszwängen gefangen hält.
Als dennoch mögliche Umbildung in Richtung Einkuppeln zeichnet sich über die Wirkungsgestalt von „Wall Street“ im Erleben der Zuschauer zaghaft und diffus ein verrücktes Ganzes ab. Ein Sinnzusammenhang, der in den Zuspitzungen der sogenannten ‚Finanzkrise‘ sowohl Symptom, als auch Selbstbehandlungstendenz der unbewusst abgewehrten Kulturdramatik erkennt.
Auch wenn Oliver Stone insgesamt sicher kein psychologisch elaboriertes Werk geschaffen hat, so hat er doch der Gegenwartkultur ein Denkmal gesetzt und sie als das abgedreht, was sie wirklich ist.
Werbebrief „Junge Freiheit“ – Versuche ins Einkuppeln !?
Das bislang erarbeitete Bild unserer Kultur lässt sich praktisch allerorts verfolgen, erweitern und ergänzen. Ein besonders brisantes Thema ist dabei nicht zuletzt das der Inter- bzw. Transkulturalität, so wie es sich im Alltag abzeichnet. Hier schlägt, so lässt sich bereits im Vorfeld vermuten, entlang unerwarteter Begegnungen mit Andersartigem, Fremdem so etwas wie die Stunde der Wahrheit. Doch schlafen die (all-) machtvollen Mechanismen des Auskuppelns auch hier nicht. Ein kulturmorphologischer Blick lohnt sich allemal.
Wie die folgenden Folien über die blauen und roten Stiche am Rande des Textes zeigen sollen, ist das spannungsvolle Zusammenspiel von Aus- und Einkuppeln auch im Werbebrief der Zeitung „Junge Freiheit“ zum Thema „Was wir aus dem Fall Sarrazin politisch lernen“ am Werke. Vor allem die zumeist unbewussten Inhalte des Einkuppelns drängen Satz für Satz sehr wirksam auf Ausdruck und wühlen insgeheime Sehnsüchte nach Umbildung auf. Und da ist richtig Pfeffer drin:
Wenn wir den Text nun von oben nach unten verfolgen, so begegnen wir im Sinn des Einkuppelns der Reihe nach zunächst der psychologischen Tatsache, dass wir in einer märchenhaften Wirklichkeit leben, in der auch noch heutzutage hexische Konstruktionen am Werke sind, die an konkreten Personen festgemacht und dort bekämpft werden müssen. Anstelle von fundierten Auseinandersetzungen und Verstehensprozessen stehen kurze, ja im Grunde kurzschlüssig verkehrte Hexenprozesse und die Vernichtung des Hexischen in Gestalt der als Hexe designierten Person.
Wir erfahren weiter, dass sich im Zuge der allgemeinen Ausbreitung dieser Mechanismen unsere Kulturideale verkehrt haben und sich Einheitswächter in unserer nur scheinbar noch offenen Welt haben einrichten können, die gegenüber vermeintlichen Abweichlern ausrücken und die Einhaltung ihrer starren Korrektheiten geradezu alternativlos einfordern (können).
Dazu werden Spaltung und Heuchelei beklagt und in ihrer Wirkung konsequent als Ausdruck und Folge einer gescheiterten Kulturrevolution verstanden, die unverarbeitet blieb und so als liegengelassenen Hintergrund unserer heutigen Kultur Lebenslügen hinterlassen hat, die es zu verdecken gilt. Zugleich aber werden diese ungebrochen tradiert, in im Grunde unbewussten Wiederholungszwängen mit nun umgekehrtem Vorzeichen.
Weiter im Text: Über Jahrzehnte hinweg haben sich so Vereinseitigungen erhalten und zu Ideologien eines „Alles geht“ verfestigen können, die die Menschen zu beschwichtigen verstehen und über ihr Gleichmachen einen differenzierteren Blick verstellen. Wie im Film „Wall Street“, hat sich also ein verheißungsvoller Traum vom Leben verkehrt in einen Albtraum und wird über Demonstrationen des schönen Scheins immerfort verkehrt gehalten. Doch auch das Verdrängte sucht nach Ausdrucks- und Verwandlungsmöglichkeiten und spitzt sich in seinen Verkehrungsgestalten explosibel zu: Gewalt, Missbrauch und Sucht breiten sich aus und laufen zunehmend aus dem Ruder.
Dagegen gilt es entschieden anzugehen, wieder klar zu sehen und zu reden, ja sich mit den konkreten Dingen auseinanderzusetzen und neue Wege zu beschreiten. Und das heißt auch hier: Stellung beziehen.
Schließlich kommen noch geheime Sehnsüchte oder Genüsse zur Sprache, die die Kultur heute durchziehen und in denen sich ein besonderer Schlüssel zum Verständnis der sich dramatisch zuspitzenden Verkehrungen zeigt.
An einem Gegenzwang, so der Text, werden wir damit nicht vorbei kommen, wenn wir dem stickigen Einheitszwang der Zeit wirklich begegnen und diesen umbilden wollen. Nur indem wir unser Schweigen brechen, Widerstand leisten und endlich erwach(s)en (werden), wird sich die lange mitgetragene Verdammnis aufbrechen und in Wahrheit umkehren lassen. Der Wind beginnt sich zu drehen. In der so errungenen Befreiung vom Zeitgeist liegt eine wirkliche Kulturrevolution, an deren Ende wieder Freiheit, Offenheit und fundierte Analysen stehen.
Dergestalt entschieden von den schwelenden Wirkungsgestalten unserer Zeit aufgewühlt und psychologisch konsequent durch ihre Wendungen hindurchgeführt, verbreitet der Werbebrief einen angenehmen, ja geradezu wohltuenden Duft. Das bringt einen Sog mit sich, sogleich nach dieser politisch sehr rechts angesiedelten Zeitung greifen zu wollen.
Doch hält dieser Sog in der Vertiefung einer psychologischen Analyse nicht allzu lange an und will aufgrund der extremen politischen Haltung des Blattes zudem immer wieder zum Umkippen gebracht werden. Ein zweiter Blick, so man ihn wagt, offenbart auch in diesem Text schließlich die vertrackten Einwirkungen des Auskuppelns, die sich über ein Hintertürchen einschleichen: Die einerseits selbst formulierten Mechanismen der unbewusst abgewehrten Kulturdramatik werden zugleich blind agiert, was noch einmal mit Nachdruck die (All-)Macht unbewusster Bild-Abspaltungen betont.
Spätestens an dem Punkt, den ich mit dem ersten roten Strich markiert habe, an dem es explizit um Verantwortlichkeiten und Schuld geht, die den sich explosiv zuspitzenden Kulturentwicklungen zugrunde lägen und allzu gerne unterschlagen würden, kommt eine gänzlich andere Wucht ins Spiel. Sie beginnt die Wucht des Duftes der zugleich versprühten Wirkungszusammenhänge und die Sehnsucht in Richtung Umbildung zu überlagern und sich mehr und mehr in den Vordergrund zu schieben. Denn die Kriminalisierung von Ausländern, und damit einhergehend eine einseitige Zu- bzw. Festschreibung von Ursache und Wirkung, ermöglicht die im Auskuppeln unbewusst ‚normalisierten‘ Prozesse des Verschiebens und Umschuldens anzustoßen und diese weiter loszutreten. Ohne hier die Aufgeklärtheit unserer Gesellschaft in Frage zu stellen, die kurz zuvor als nur scheinbar noch umgesetzt beklagt wurde. Das löst eine wahre Flut von scheinbar eindeutigen und zweifelsfreien Verschiebungen aus, eine Abwehrmaschinerie, die uns das Ausmaß der unverarbeitet abgespaltenen Unerträglichkeiten und Nöte unserer Zeit erahnen lässt.
Wenn man das systematisch zerlegt, könn(t)en wir Zeugen eines weiteren, im Nebeneinander unbemerkt agierten Hexenprozesses werden:
Dabei wird zunächst deutlich, dass unsere bereits intrakulturell ungestalteten Abspaltungen des Anderen, Fremden überhaupt sich hier unbewusst verbunden haben mit den zumeist offensichtlich daherkommenden Eigenheiten vieler Migranten, die uns als Andersheiten erscheinen, und somit dort verortet, personalisiert und bekämpft werden können und müssen. Der Mechanismus des Gleichmachens verhindert auch hier einen differenzierten Blick auf das Ganze und lässt ein jede Möglichkeit von Entwicklung und Verwandlung, die diese spannungsvollen Ergänzungen des je Anderen zum Eigenen unabdingbar zur Voraussetzung hat, im Ansatz versanden.
Dergestalt selbstgerecht verkehrt geht es dann weiter, indem diese Flucht vor der eigenen Entwicklungsarbeit nochmals verschoben wird. Und erneut sind Ausländer eine vermeintlich geeignete Zielscheibe des Auskuppelns. Denn sie erfahren an Leib und Seele, was das Verkehrt-Halten des Verhältnisses von eigen und anders konkret heißt: Die leidvolle Verweigerung einer Begegnung und Auseinandersetzung von Mensch zu Mensch, wodurch sich die möglichen Erwartungen bei der Gestaltung ihrer neuen Welt verkehren (müssen), und nicht Entwicklungswerke, sondern Verkehrt-Halte-Werke das Halt und Gestalt suchende Bild auszuformen drohen und verdunkeln. Sucht, Gewalt, Missbrauch etc., als immanente Strukturen unserer Kultur, sowie Armut und Bedürftigkeit können jetzt an Ausländern festgestellt, als gefürchtete Anomie, d. h. als Unfähigkeit zur Anpassung rationalisiert und mit ihnen ausgestoßen werden. Abschiebungen erscheinen diesen Kurzschlüssen zufolge eine legitime, ja durchaus vernünftige und dazu verführerisch einfache Lösung, die, tiefer betrachtet, die explosiven Betonierungen der Zeit jedoch noch verstärken.
Jenseits des Ausstoßens ergibt sich innerhalb einer Auskuppelkultur im Grunde nur eine mögliche ‚Lösung‘. Integration heißt demnach vor allem einseitige Assimilation an unsere ungebrochen gepriesene ‚Leitkultur‘ (als nómos), zu der es keine Alternative gäbe, ohne dass jemand weiß, warum. Nicht etwa ein Verwandlungsbild, als Ganzes, ein Einlassen auf das Leben von Existenzverhältnissen und ihren psychologischen Verwandlungsbedingungen und –gesetzen her, keine gemeinsame Verwandlung im Austausch und entschieden geführte Bilder-Kämpfe können so ‚gedacht‘ werden. All das prallt an den insgeheim stets trennenden, d. h. niemals ihrerseits integrieren und anerkennen wollenden Zurechtmachungen und ihren abstrakt demonstrierten Bollwerken ab. Selbst der unablässige Stolz dieses Turm-Daseins und die damit einhergehende Einseitigkeit und Starre des gemeinsamen Lebens wird verschoben und beim Ausländer ausgemacht.
Inwieweit hier eine unbewusste Leitkultur mit im Spiel ist und das Ganze in destruktiver Weise von unbewussten Diktaten her aufzieht und durchformt, die mit aller Macht und gar Gewalt nicht ihrem Schatten begegnen wollen, mag ein doppelter Blick jetzt vielleicht aufgreifen. Wieder und wieder suchen sich Erfahrungen des Scheiterns, Verkehrens, unerträgliche Ohnmacht, tiefes Leid und Verwundung, und somit ein unbewusstes Ressentiment trickreich zu verwandeln in Macht, Erhabenheit und dementsprechende Rationalisierungen. Doch ist das so Errungene psychologisch gebaut aus Ansprüchen auf Allmacht, aus Schein-Macht und Illusion, und entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als ein unmögliches Blendwerk.
Als ein zentraler Schlüssel zum Verständnis der sich dramatisch zuspitzenden Entwicklungen der Gegenwart kommen auch im Text geheime Sehnsüchte oder Genüsse zur Sprache, die die Kultur durchzögen und die sich daran erfreuten, dass muslimische Einwanderung die deutsche Gesellschaft untergrüben. Erneut vermag hier nun ein zweiter Blick das Gleichmachen und seine unbemerkten Wirkungskonsequenzen zu erkennen, die sich weiter zuspitzen und tatsächlich Entscheidendes offenbaren. Denn abgesehen von der klammheimlichen Verschiebung von bislang nationalstaatlich ausgemachtem Ausländischem auf religiöse Zugehörigkeiten, weiß eine morphologische Zerlegung dabei die diversen Tendenzen der Zeit aufzudecken. Was also steckt dort drin? Die unbewusste Lust des Auskuppelns am Verkehrt-Halten? Sucht sich indes ein unbewusstes Angeeignet-Worden-Sein von Etwas Ausdruck zu verschaffen, das unsere Kultur untergräbt? Etwa vom Hexischen, seinen unbewussten Einheits-Diktaten (Fundamentalismen), oder verschoben, personalisiert und abgewehrt auf Kosten der Ausländer bzw. ihrer Religion? So wahr das auch dort manchmal sein mag. Doch auch die Umbildungsseite bildet sich zaghaft ab, so als könne es selbst hier noch eine verrückte Rettung geben, die im jeweils Ausgestoßenen zugleich die (Er-)Lösung sehen und diese angehen kann, was mal ausgekuppelt nach außen verlagert werden muss, mal als ein immanentes Gefüge erkannt werden kann, in das wir alle verwickelt sind? In dieser diffusen Verdichtung des Briefes bleiben diese Hoffnungen jedoch unmöglich umzusetzen und in Spaltungen hängen.
Welche Ungeheuerlichkeiten und Schattenseiten diese Spaltungen konkret zu bannen trachten, wird auch in diesem Kulturwerk deutlich: Nämlich, dass wir selber herstellen und bis hin zu biologistisch festschreiben, was wir zu bekämpfen meinen, und dass sich unsere Ideale im Zuge dessen verkehrt haben. Dass manch eine Lebenslüge darüber wacht, dass sich das Leben nicht wird weiterdrehen können und dass wir genau das insgeheim wollen und genießen. Und dass all das auch hier Hintergründe, Genese und Sinn hat.
Ein gelingendes Zusammenleben von verschiedenen Kulturen, das sich jenseits von allerlei Missverständnissen, falscher Harmonie, Anschuldigung, Ideologie und (verdeckter) Gewalt vollzieht, setzt voraus, dass diese verdrängten Zusammenhänge ans Tageslicht geholt, ausgetauscht und entschieden durchgemacht werden können und dürfen. Jenseits also von rechts und links, in den Grenzen des Möglichen und auf allen Seiten. Eine wahrlich nicht einfache Aufgabe für die Zukunft.
Dagegen erweisen sich Stimmen, die Multikulti für gescheitert und tot erklären, erneut als weit einfachere Kurzschlüsse, die sich nachhaltig aus der Verantwortung stehlen. Denn sie opfern mögliche, wenn auch zweifelsfrei mühsam und unbequem zu erklimmende Zukunftsvisionen, ja im Grunde Unumgänglichkeiten, zugunsten des ewigen Erhalts von unmöglichen (Seelen-)Welten, in denen wir uns tiefer und tiefer festsetzen. Gleichsam auf der Flucht ist indes auch die scheinbare Gegenseite, die entlang ihrer Kurzschlüsse allerorts die Bereicherung durch Migration preist, das Bestehen von Parallelkulturen geradezu leugnet und ein gelingendes Zusammenleben als bereits oder nahezu realisierte Normalität konstatiert, d. h. erneut Verschiedenheiten, Unstimmiges und Leid im Gleichmachen wegwischt. Wie der Werbebrief selbst herausstellt, wird auch hier über einseitig verfestigte Ideologien eines „Alles geht“ und, auf den zweiten Blick, eben nur geheuchelter Offenheit die tiefere Kulturdramatik unangetastet verkehrt gehalten, wodurch sich das Leben, anstelle von Totalitarismen befreit zu werden, völlig unbemerkt verkehrt hat in jenen heute erlebbaren Albtraum. Zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Zu guter Letzt erfahren wir derart aufgelöst, dass, wer sich auf seinem persönlichen Lebenswege den notwendigen Bilder-Kämpfen zu stellen beginnt und hier und da mühsam die selbst versperrten Wege frei zu räumen versteht - dass da etwas herauskommt, das irgendwo im Dazwischen steckt. Ja, dass sich mit der Zeit etwas Neues, Anderes, noch Unbekanntes entwickelt und als solches weiterdrängt. Nicht das immer gleiche, bekannte, alte und ewig gewohnte Deutschland, das (nicht nur) Sarrazin so verkehrt festzuhalten sucht, um seiner Verblendungen nicht gewahr werden zu müssen, die kaum, wie im Text demonstriert, die Wahrheit auszusprechen in der Lage sind.
Zusammengefasst baut sich quer durch diesen Brief also Stein um Stein jener Turm auf, in dem unsere Kultur wie Rapunzel festsitzt. So verkehrt sich die am Ende versprochene neue Kulturrevolution, die Freiheit, Offenheit und fundierte Analysen wider Hinrichtungsjournalismus zu verwirklichen wisse, in ihr bekämpftes Gegenteil. Statt der konsequenten Befreiung vom Zeitgeist bleiben trotz aller guten Vorsätze, die das unter den Teppich Gekehrte offen zu legen suchen, selbst bei der Zeitung „Junge Freiheit“ leider nur die ‚verhexte Freiheit ‘ und kaum mehr als leblose
Blasen. Und doch ein echter Anstoß.
Psychologische Morphologie als Überlebens-Kunst
Wie hoffentlich zunehmend verständlich wurde, zeigt die systematische Analyse von Wirkungseinheiten konkrete Zusammenhänge auf. Auch da, wo sie uns nicht bewusst sind. Die Psychologische Morphologie wird so zu einer seltenen Kunst im Umgang mit den vielgestaltigen Phänomenen der gegenwärtigen Kultur, ja tatsächlich zu einer Kunst des Überlebens inmitten schwieriger und zugleich zu einer Kunst wider diese Zeiten voller Tücken, wie anfangs gefragt. Und darin liegen auch die tiefgreifenden Beweggründe, die die Entwicklung der Psychologischen Morphologie als Wissenschaft überhaupt angetrieben haben.
Entgegen der fortschreitenden Zersplitterung und Spezialisierung von Alltagswelten ermöglicht sie es uns, das Leben noch vom ganzen her in Augenschein zu nehmen und so Zusammenhänge ins Bild zu rücken, die uns allen, als Kultur, einen klaren Schubs in Richtung einer fruchtbareren Zukunft geben könn(t)en.
So ergeben sich schließlich die entscheidenden Fragen, die wir uns als Morphologen werden stellen müssen, so wir diese vielverspechenden Potentiale ausspielen und auch heute noch die Dinge des Lebens anders sehen und entwickeln wollen:
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Wie nahe kommen wir an unsere Überlebens-Kunst wider die Tücken der Zeit noch heran im Jahre 2010?
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Wissen wir überhaupt um diese, unsere Kunst? Gelebt? Umkämpft?
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Wagen wir die entscheidenden Schritte zu gehen? Auch im Angesicht der leidvollen Abwehr des Auskuppelns?
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Inwieweit werden wir von den unbewussten Diktaten der Zeit angeeignet und halten so unseren Gegenstand verkehrt?
[i] Ausarbeitung eines Vortrags von Dr. Claudia Pütz bei der Tagung „Psychologie als (Überlebens-)Kunst“ der Gesellschaft für Psychologische Morphologie (GPM) am 5. Dezember 2010 in Köln.