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K u n s t  -  R e v o l t e n
Die Galgenlieder von Christian Morgenstern: Der Lattenzaun (1905)

Lebensmuster sind Zu­recht­ma­chun­gen unserer ‚Vernunft‘, die sich nur ungern auf ein derart verrücktes Gan­zes und seine komplexen Erlebenszusam­men­hänge einlässt, wie es sich psy­cho­lo­gisch zei­gt, so wir ge­nau­­er hinschauen (wol­len) und zu beschreiben beginnen.

Psychologische Zusammenhänge folgen einer ganz eigenen Sys­­te­ma­tik und Kon­se­quenz. Nicht selten rufen diese Befremdung und Skepsis hervor. Nach der Psychoanalyse Sigmund FREUDS etwa ringen zwei grundlegend voneinan­der unterscheidbare Seelenmächte - Eros und Thanatos - um mögliche wie auch unmögliche Weltschöpfungen und durch­­dringen über ihr Gegenspiel unseren Alltag, ohne dass uns das bewusst ist. In der Psychologischen Morphologie wird die Eigenart seelischer Formbildungen über die Gesetze von Gestalt, Werk und Ganz­heit erfasst, und eben diese seltsame Morphologie ist es, die die Grundla­ge eines jeden Austauschs, einer jeden Verwandlung bilden. Dieser Austausch ist jedoch nur zu einem kleinen Teil ein Austausch zwischen Men­schen, wie er bei FREUD über seinen Begriff der ‚Objekt­­be­ziehung‘ zu einer be­sonderen Be­deutung gelangt ist und bis heute in dieser Verengung weiterlebt, obwohl bereits ‚Eros‘ und ‚Thanatos‘ darüber hinaus wiesen. Vielmehr sind es die Verwand­lungs­begehren der Gestalten selber, die miteinander in Austausch treten, un­ser alltägliches Tun und Leiden ins­geheim durch­­formen und die das Leben entlang un­auf­heb­bar paradox ineinander­greifender Existenzverhältnisse wirksam   bewe­gen.    Klar   abgrenzbare   Auf­­­spal­tun­gen   und   Personalisierungen   dieser   dramati­schen

Kunstwerke suchen vielfach genau dieses Psycho-Logische zu be­werk­stel­ligen und uns in eher ungewohnte Seelen- bzw. Erlebensreiche zu be­för­dern, die unseren Blick auf die Wirklichkeit schärfen, indem sie diese ins Bild rücken, zu­­spitzen, karikieren, ergänzen, (um-)brechen, zerlegen. Kunst greift in ihrer ei­gen­artigen Ver­fasst­heit Be­stehendes an. Über ihre Tendenz zum Aufbrechen von Verkrus­tung, Ver­kün­­­ste­lung und Stilllegung, als Selbst­behandlung von Wirk­lichkeit über­­­haupt, kann sie zum Motor von (kul­tureller) Entwicklung werden. Von dieser spe­­zifi­schen Kunst­verfassung, ins­be­sondere der Avant­­garde, sucht die Psy­cho­logi­­sche Morphologie seit je her zu ler­nen und das Seelische in aus­gedehn­ten Pro­zessen des Mitbewegens und des Aus­tauschens zu erforschen. Daher spricht sie auch von der Psych­ästhe­tik seelischer Wir­kungseinheiten. Was aber heißt das konkret?

D e r  L a t t e n z a u n

 

Es war einmal ein Lattenzaun,     
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.

 

Ein Architekt, der dieses sah,     
stand eines Abends plötzlich da -

 

und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.

 

Der Zaun indessen stand ganz dumm,
mit Latten ohne was herum.

 

Ein Anblick gräßlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.

 

Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri- od- Ameriko.

Christian Morgensterns Galgenlieder bestechen durch ihre Einfachheit; als einer Einfachheit, die verblüfft, die schräg und verrückt ist, ja die es irgendwie in sich hat, auch ohne dass man so recht versteht warum. In der Intensivierung einer psychologischen Analyse kommen ganze Welten in Bewegung:

Bereits die Bezeichnung dieser kurzen Gedichte als ‚Galgenlieder‘ bringt Ver­wunderung mit sich. Morgenstern wusste um die Brisanz seiner Lieder in seiner Zeit. Hier geht es wirklich um was, lässt sich in einer ersten Annäherung vermu­ten, ja um so etwas wie das letzte Begehren, die letzten Worte vor der Hinrich­tung. Wer oder was aber soll hingerichtet werden und regt dennoch irgendwie zum Schmunzeln an? Morgenstern? Vielleicht. Da aber setzt ein Verrücken an, nein, nein, es geht nicht um konkrete Personen, auch wenn wir unser Unbeha­gen gerne auf diese Weise festzumachen suchen, um es dann abzuhaken und weiterzumachen wie eh und je. Morgenstern möchte uns etwas sagen, hier geht es um eine Wirklichkeit, die verabschiedet werden soll. Doch welche? Und geht das? Uns alle, als Kultur, kann man doch nicht töten. Da bleibt doch was. Steht nach einer solchen Hinrichtung nicht unumgänglich etwas Anderes, etwas Neu­es auf, das sich nun zaghaft entwickeln, entfalten und bewähren muss? Gegen das Alte? Was könnte das sein? Und können wir da noch lachen oder bleibt uns das Lachen im Halse stecken? Sind wir es also, die am Galgen hängen und nicht mehr weiter wissen und doch weiter müssen? Wollen wir das? Nun, dann ist es doch leichter Morgenstern zu beschuldigen, uns etwas sehr vergaukeln zu wollen. Mit Jugendscherzen, die kaum der Rede wert sind. Nimmt er uns nicht ernst? Doch warum hängt er sich selbst an den Galgen? Warum tut er sich (und uns) das an? Was ist da passiert? Sind das wirklich seine letzten Worte, die ihm so wichtig sind? So geht das Erleben zwischen diffusen Bewegt­heiten und Ver­suchen der Stilllegung dieser skurrilen Un­fassbarkeiten hin und her. 

Es geht tiefer in den Text hinein. Ein Haus aus Zwischenräumen gebaut. Was ist das für ein Architekt? Wie geht das? Da kann man doch auch hindurchgucken. Aber wenn die Zwischenräume halten? Da ist doch was, das sich abhebt, so platt ist das gar nicht gemeint, ja das hat was und macht Spaß. Schließlich ist ein Haus draus geworden und der Architekt ist froh. Oder ist der von allen guten Geistern verlassen? Er wird ja außer Lan­de gejagt. Doch bricht das Erleben immer wieder um. Nein, der macht das einfach und findet ungewohnte Lösun­gen. Darum geht es! Die Welt mal auf den Kopf stellen und anders sehen, wo­hingegen wir das von unserem Verständnis von Wirklichkeit für unmöglich halten und den Architekt für unsere Sturheit an den Galgen hängen. Wer also ist der Dumme? Haben wir die Latten vor dem Kopf? Vielleicht sollten wir uns Zwi­schenräume vor die Augen halten; selbst der Zaun steht ganz dumm herum so ohne Zwischen­räume. Grässlich und gemein. Was aber fehlt dem? Uns? Was ist es, das der Architekt hier baut, in Umsatz bringen will? Mehr noch, Morgen­stern ist der Architekt dieser Zeilen, er baut unser Erleben auf und um, er will einen neues (Er-)Le­ben und wir gehen zögerlich mit. Oder nicht? So beginnt sich das Erleben über die erste Verstörung hinaus umzu­zen­trie­ren. Etwas wirkt und drängt weiter.

Mehr und mehr wird eine Konstruktion erfahrbar, die das Ganze trägt und nach vielen Seiten drehbar ist. Durch die Zwischenräume hindurchzugucken heißt ja auch, dass da etwas durchlässig wird für Anderes, für ein Dazwischen, dass sich unser Blick mehr und mehr erweitert. Eine komische Welt wird so spürbar, eine Wirk-Welt, von der wir kaum noch etwas mitbekommen und die doch da ist. Der Zwischenraum ist ein Wirk-Raum dazwischen. Selbst wenn wir ihn außer Lande scheuchen, weiß er noch einen Witz zu reißen und zu überleben. Er geht nach Afri- od- Ameriko. Wieder werden unsere Formen, unsere Kultivierungen karikiert, in Frage gestellt und es geht so weiter, wo­an­ders­­hin. Das erleichtert einerseits und doch kommen zugleich neue Fragen und selbst Neid auf. Denn nun ist sie weg, diese (un-)mög­­liche neue Welt, wir stehen ohne sie da, erstarrt, grässlich und gemein. Und: Wir haben das so gewollt. Drum zog ihn der Senat auch ein, was neben der Abwehr gegenüber dem so vorgehaltenen Spiegel einen Hauch von Einsehen in sich zu tragen scheint, denn ohne seelische Zwi­schen­räume geht es wirklich nicht. Oder ist es doch nur ein schlechter Scherz, dem wir auf den Leim gehen?

Paradox aber ist das sich seltsam Entwickelnde mit Nichts zu töten, je mehr wir es still­zulegen suchen, desto mehr drängt es sich im Gegenzug in unser (Er-)Le­­­­ben und umgekehrt. Hier geht es wirklich um eine neue Weltschöpfung, die wir unbewusst ersehen, um das Verrücken von Selbstverständlichkeiten und damit um einen Blick auf uns selbst, auf das, woran wir mit aller Macht festhalten, oh­ne zu merken, was wir uns selber nehmen. Es geht um den Blick auf das, wo­rauf wir stolz sind und das uns doch zugleich unlebendig und stur macht. Es geht um seelische Verwandlungsmuster und ihre Gesetze, die insgeheim mit am Werke sind.

Christian Morgenstern stellt dem vorherrschenden ‚Realismus‘ seiner Zeit eine be­wegliche Welt voller Mehrdeutigkeiten, Unauflösbarkeiten und Übergänge ent­­­gegen. Er schreibt an gegen naive Vernunfts­gläu­bigkeit, gegen eindeutige Kau­salbeziehungen, starre Ordnungen und verkehrte Ideale. Eine neue Musik im Zwischen­raum von Leben und Galgen sucht sich über seine Zeilen einzustim­­men, zag­haft und doch durch­komponiert. Bereits An­fang des 20. Jh. ge­staltete Mor­gen­stern eine Kunstform aus, die weit mehr ist als einfacher Sprachwitz. Sie ist eine kunstvolle Revolte gegen den Zeitgeist, gegen Naturalis­mus und Histo­­ris­mus, noch ehe Dada und Surrealismus sich zu formieren begannen.

Aus derartigen Kunstbetrachtungen und ihren Erlebensverläufen hat die Psy­cho­­logische Morphologie über viele Jahre hinweg sechs Kunstkriterien ent­wickelt, die sich als eine Wirkungseinheit entfalten. Sie machen die Psych­ästhe­tik un­se­­rer Wirklichkeit methodisch geleitet als Figuration erfahrbar.

Auch wenn diese Kunstkriterien stets im Ganzen, als ein Indem, wirksam sind, sich also nicht als ein Nach- oder Nebeneinander anordnen las­sen, so soll das Gedicht der Vereinfachung halber von oben nach unten angeschaut wer­den. Gerade die Struktur des Lattenzaus bietet sich dazu an, ohne die Vielstimmig­keit des Wirkungs-Ganzen allzu sehr zu vernachlässigen.

Zunächst werden wir über die ersten zwei Zeilen in eine Realitätsbewegung ein­­be­zogen, die uns mit einem Lattenzaun konfrontiert, wie wir ihn kennen, mit Lat­­ten und einem Zwischenraum. Gleich darauf aber wird diese Alltagserfahrung, die auf Ausbreitung drängt, jäh gebrochen, als ein Architekt den Zwischenraum herausnimmt und draus ein großes Haus baut. Darin zeigt Kunst sich zugleich als Störungsform unserer gewohnten Weltsicht, die verblüfft und verunsichert. Auch Neu­­gier kommt zwischen ersten Abwehrbewegungen auf und drängt auf Entfaltung. Raum und Zwischenraum werden zu einem seltsamen Gegensatz­paar oder Wirklichkeitsverhältnis, das sich fortan zu drehen beginnt. Es wird mehr­deutig. Was ist was, kann das Eine etwa auch zum Anderen werden? Kann das eine überhaupt ohne das andere auskommen? Verschie­dene Gestalten heben sich ab und können doch nicht recht gefasst werden. Wieder und wieder gehen sie über in Verwandlung, in Fragen und Zweifel, dann wieder in klare Entrüstung oder Freu­de an dieser Umwertung unserer Werte. Gestalt und Ver­wandlung beginnen sich so zu ereifern in Spiel und Gegenspiel und vertiefen den anfänglichen Austausch zwischen Lattenraum und Zwischenraum. Diverse Qualitäten von Verwirrtsein, Wut und diffusem Spaß an der Sache mischen sich ineinander; als eine weitere Metamorphose des sich steigernden Wechselspiels, in dem jede Vereindeutigung sich ihrer Einverleibung entzieht. Dabei kommen die Erlebensinhalte näher. Abbrüche drohen und doch will das Erleben weiter mitgehen mit dieser skurrilen und irgendwie vielversprechenden Wirkwelt. Etwas kommt mehr und mehr in Umsatz und wird als Struktur erfahrbar.

Das (Dreh-)Gefüge nimmt endlich Fahrt auf. Konsequenzen werden ins Bild ge­­rückt. Denn nun steht der Zaun ganz dumm mit Latten ohne was herum. Der Witz darin weist auf Ergänzungen, die drängen und gesehen werden wollen. Die Welt kann anders aussehen. Wir haben sie gemacht und so manches dabei aus den Augen verloren. Auch wir könnten anders sein und wollen es zugleich nicht. Doch jetzt werden Konsequenzen spürbar, so geht es vielleicht nicht mehr weiter. Damit setzt sich eine Kon­struk­tionserfahrung ins Werk, die sich mit einer Durchlässigkeit ergänzt, die sich ausbreiten will. Das Ganze birgt einen wirksa­men Zusammenhang, der sich durch alle Glieder hindurch zieht.

Durch eine erneute Realitätsbewegung spitzt sich der erfahrbar gewordene Ver­­wandlungskomplex zu. So einfach wie zu Beginn der ersten Zeilen ist diese Re­­a­lität nun nicht mehr, alles drängt auf einen Umbruch, hin zu einem neuen Blick auf das Leben. Denn während der Senat hier wie eh und je agiert und doch zu­gleich einen Keim von Einsicht in sich trägt, der über das einfältig ‚reale‘ hinaus­geht, entfaltet die allgemeine Störungsform des Galgenliedes ihre seelischen Folgewir­kungen. So endet das insgeheime Sehen nicht mehr nur Morgensterns in einer erneuten Ex­pan­sion von Surrealem, in der die verschiedenen Seiten der Wirklichkeit jetzt besser gelitten werden können und damit beweglicher, ja be­wegter miteinander in Aus­tausch treten. Das Verwandlungsbild drängt als Para­dox fort und will in Umsatz kommen, in Fleisch und Blut übergehen.

Da aber bröckelt es wieder. Beim letz­ten der morpho­logischen Kunstkriterien, der Verwandlungs-In­kar­nation, ha­pert es beim Lattenzaun. Anderswo, auf der Flucht vor den Wider­stän­den und des ‚realen‘ Einziehens (nicht nur) von Seiten des Senats, oder zu einer anderen Zeit könnte das neue Lebensbild zu seiner Verwirklichung vielleicht neu ansetzen und eine andere Welt gestalten. Hier und jetzt kann dieser letzte Schritt nicht gegangen werden. Das Alte, das Gewordene ist stärker und kippt das Neue. So landet das anders ersehnte Leben an dem Galgen, an den wir selbst es hängen. Als letzte Worte vor der Hinrichtung. Und darin ist Morgenstern hochaktuell.   

Dieses Manko bei der Durchformung des neu Errungenen in seiner kunstvollen Architektur (Psych­ästhetik), um entschie­den Gestalt annehmen und gelebt wer­den zu können, ist es zuletzt auch, wes­halb die Galgenlieder von Christian Mor­genstern sich nicht aufzuringen vermögen zu wirklich großen Kunstwerken. Da­­bei müssen die ‚kleinen‘ Lieder nicht ‚große‘ Romane sein, um für die Morpholo­gie Kunst zu sein. Das sind sie allemal.

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