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Hier und Anders(wo) - Clint Eastwoods neuer Film „Hereafter“ (2010)
Clint Eastwoods neuestes Werk spaltet die Geister. Seine sichere Hand für ganz besondere, hochwertige Filme und damit sein sicherer Sinn für die Magie des großen Kinos, für phantastische Erlebenswelten, so heißt es wieder und wieder in diversen Kritiken, sei im Begriff, mit seinem fortschreitenden Alter an Kraft zu verlieren und sich zunehmend zu vergreifen. Fade und langweilig, ohne besondere Dramatik, allzu vorhersehbar, unausgegoren und wenig lebendig sei sein neuester Versuch, der sich nun - merkwürdig genug - dem Jenseits zuwende. Und zu allem Ärger werfe der Film mehr Fragen auf als er zu beantworten imstande sei und enthalte uns so eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Thema Tod und einem möglichen Leben danach vor.
Mit Beschreibungen kommen wir da weiter: Statt mit aufwendiger Effekthascherei, technischer Raffinesse, lauten Schnitten, Kameraführungen, Dialogen etc. berührt „Hereafter“ überwiegend mit leisen Tönen und einer großen Sensibilität für die kleinen Dinge des Lebens. Dazu werden die Zuschauer in eine Welt geführt, in der allerorts Schicksalsschläge, Terror und Naturkatastrophen die wenig Halt gebenden Routinen des Alltags zu durchbrechen und das Ganze zu verkehren drohen. Scheinbar drei ganz verschiedene Menschen, an drei verschiedenen Orten, die urplötzlich aus dem Takt ihres Lebens geworfen
werden, werden zu Protagonisten einer allgemein verspürten Verunsicherung und Angst, die zwischen Flucht vor und zugleich Annäherung an unumgängliche Konsequenzen nachhaltiger Veränderungen hin und her pendeln. Es ist die Welt unserer Tage. Das Filmerleben aber weiß im Zuge seiner Komplexentwicklung über ein konsequenzloses hin und her hinauszugehen und das leidvoll Erfahrene in Stärke zu verwandeln. Etwas fügt endlich alle(s) zusammen: Als Menschen (und zugleich als Anteile bzw. Qualitäten unserer Wirklichkeit) gesehen und verstanden zu werden. Allen Widrigkeiten zum Trotz ein neues, ein anderes Leben ausgestalten. Das bewegt die Zuschauer. Das ist „Hereafter“!
Da wäre zum einen die französische Fernsehjournalistin Marie, die bei einer Reportage in Thailand vom Tsunami mitgerissen wird und ertrinkt. Für wenige Minuten erlebte sie den Tod, doch etwas bringt sie wieder ins Leben zurück und lässt ihr fortan keine Ruhe mehr. Dafür riskiert sie ihre Karriere und erkennt nun die Falschheit der anerkennenden Beteuerungen ihrer Kollegen, auch ihres Partners. Sie erfährt, wie leichtfertig sie als Reporterin und Lebenspartnerin ausgetauscht werden kann, sobald sie nicht mehr so funktioniert, wie es von ihr erwartet wird. Immer entschiedener drängenden Existenzfragen und unverstandene ‚Visionen‘ weiter auf Ausdruck. Auch das Erleben beginnt sich umzuzentrieren. Die redaktionelle Routine hingegen will nichts davon wissen, schon gar nicht, als sie ein Buch über ihre Erfahrungen zu schreiben und intensiv zu recherchieren beginnt, anstelle, wie vereinbart, über Françoise Mitterrand zu schreiben. Das alles sei esoterisch und unseriös. Ihr altes Leben in Paris will und kann sie dennoch nicht mehr leben, egal wie viel Abwehr ihr entgegentritt und diese sie allein auf weiter Flur stehen lässt. Etwas anderes ist stärker und will gelebt werden, um das allgemeine Schweigen, die allgemeine Wort- und Fassungslosigkeit im Angesicht ihrer Suche nach Wahrheit zu durchbrechen. So gibt sie ihrem Buch den Titel „Hereafter - Verschwörung des Schweigens“. In London findet sie einen Verlag, der es herausbringt, und schließlich auch begeisterte Leser, Leidensgenossen und Zuschauer, die die Dinge anders zu sehen beginnen.
Auf der anderen Seite der Weltkugel, in San Francisco, findet der Fabrikarbeiter George keine Ruhe. Seit einer Gehirn-OP in Kindheitstagen, während der er für wenige Minuten gestorben war und wiederbelebt wurde, durchkreuzen merkwürdige Phänomene sein Leben. Er weiß Kontakt aufzunehmen zu Verstorbenen und den Hinterbliebenen drängende Fragen zu beantworten, indem er Licht in ihr Dunkel bringt. Das verstört, auch die Zuschauer, manchmal mehr als gelitten werden kann und doch liegt darin zugleich Trost. Als Medium kann er viel Geld verdienen, vor allem seine Familie genießt den Geldsegen, doch ein ‚normales‘ Leben, wie er es sich wünscht, kann er so nicht aufbauen. Seine Gabe wird ihm Fluch und Verzweiflung. Als sein Job in der Fabrik gekündigt wird, beginnt er seinen einst abgebrochenen Weg wieder aufzunehmen und macht sich auf die Suche. Das führt ihn nach London, dem Ort des Schaffens von Charles Dickens, dessen Geschichten ihn von jeher faszinieren. Bei einer Literaturmesse drängt es ihn zu Maries Lesung und endlich in ein neu erfülltes Leben jenseits des vermeintlich ‚Normalen‘, das seine Gabe verstehen statt verschweigen und annehmen kann. Auch wenn die Zuschauer hier zögern und abwehren, so rührt es sie doch.
In London lebt indes Marcus, der bei einem tragischen Unfall seinen Zwillingsbruder Jason verliert. Die Drogenabhängigkeit der alleinerziehenden Mutter, die die beiden Söhne vor dem Jugendamt zu verheimlichen suchten, bricht nun offenkundig hervor. Die Dinge müssen sich entschieden verändern. Er kommt in eine Pflegefamilie. Doch sein Schmerz überbordet alles, ein neues Leben scheint unmöglich. Auch er begibt sich auf die Suche, was die Zuschauer ganz besonders bewegt. Diese führt ihn wie von Geisterhand auf die Lesung und dort zu George, den er durch seine Recherchen im Internet als Medium erkennt. Das aber will der nicht mehr sein. Während es dem Zuschauer schwer fällt hier weiterzugehen, gibt Marcus nicht auf. Als George ihn schließlich mit seinem Bruder in Kontakt bringt, erkennt er, wie sehr sie Beide nach wie vor eins sind. Die forscheren, strebsameren und zugleich beschützenden Seiten Jasons, die meist die Führung in ihrem Leben übernahmen, müsse er nun selber entwickeln. Damit kann er ihn (als reale Person) gehen lassen und findet neue Lebensfreude, die ansteckend wirkt. Der Tod seines Bruders hat zusammen mit Georges Vermittlungskünsten etwas in Gang gebracht, dass sonst wenig Chancen bekommen hätte: Ein Leben danach.
Eastwood hat sich kaum zufällig in dieses ungewöhnliche Gewässer geworfen, dem es so offenkundig nicht um das große Geld und den großen Ruhm geht. Davon hat er mehr als genug. Und der eine oder andere (Kritiker) merkt das auch. Er wagt es, die Dinge auf den Kopf zu stellen, sie anders zu sehen als üblich und macht so filmisch ein Zwischenreich erlebbar. Voller Spannungen und Magie kommt das sich eröffnende Dazwischen mehr und mehr - als ‚Jenseits‘ - in Bewegung. Denn so klar umrissen dieses merkwürdig ‚Jenseitige‘ auf der Geschichtenebene zu sein scheint bzw. beim Zuschauer nach eindeutigen Rationalisierungen verlangt und diese Wünsche enttäuscht, so sehr verrückt es sich im Erleben zugleich in ein entschieden diesseitiges Darüber Hinaus, das letztlich unfassbar bleibt, ja bleiben muss. Und da gruselt es dem Zuschauer wieder und wieder. Paradox ist es die Erfahrung des Todes und eigentümliche Versuche der Kommunikation mit dem darüber erfahrbar gewordenen ‚Jenseitigem‘, die im Hier und Jetzt das Leben anders ergänzen und neu entfachen. Mit aller Härte, unter Schicksalsschlägen und Trauer, und doch zugleich herzlich, warm und getragen von einem stillen Hoffnungsfunken, der weiterdrängt.
Hierin verborgen liegt eine ‚neue‘ Zukunft, gleich ob diese religiös oder atheistisch gefasst sein mag. Dafür sucht der Film Partei zu ergreifen, für ein hier und anders(wo), zukünftig zugleich, als eine untrennbare psychästhetische Wirkungseinheit, als „Hereafter“. Doch dieses verrückte Dreh-Ganze, als Transfiguration und Austausch seelischer Formbildung, in der das Gefürchtete, Ungeliebte zugleich (Er-)Lösung sein kann, ist für die Meisten in der Konsequenz kaum zu ertragen. Es widerstrebt unserer Alltagswelt, dem Auskuppeln, das so Vieles aus den Augen verloren hat und ein ‚Jenseitiges‘ von ‚Diesseitigem‘ absondern und Beides getrennt halten muss, als Irrationales versus Rationales, als Glaube versus Vernunft, als Wahn versus Realität, und so in Spaltungen agiert und festsitzt. Auch das Filmerleben fällt diesen Mechanismen anheim, indem es einer neuen, fragilen (Kino-)Welt einen faden, geradezu betäubenden Grauschleier überwerfen und das sich Entwickelnde abwerten muss.
Das Märchen „Das blaue Licht“ der Gebrüder Grimm rückt das Ganze nochmal entschieden ins Bild und zeigt uns, was wir als Kultur in Zukunft werden bewerkstelligen müssen: Ein im Krieg verwundeter Soldat, der seinem Herren nach langen, treuen Diensten zu nichts mehr taugt, wird verstoßen. Nichts ist ihm geblieben. Voller Sorgen macht er sich auf die Wanderung und stößt tief im Walde auf eine Hexe, die ihn für ein Bett und etwas Essen von morgens bis abends für sich arbeiten lässt. In dieser Metamorphose spürt der leidgeprüfte Soldat jetzt die bösen Gedanken hinter vermeintlich netten Taten und Worten und verweigert der Hexe seine Dienste. Er wagt Gewordenes, Verkehrtes zu überschreiten. Doch erneut scheinen Hunger und Tod unausweichlich. In einem ‚lichten‘ Moment, in dem er die Dinge allen Widrigkeiten und Gefahren zum Trotz anders zu sehen beginnt, fällt dem Soldaten ein blaues Licht zu, das die Hexe indes verloren hatte und niemals erlischt. Durch dieses wundersame Licht geleitet, das, so man etwas mit ihm entfacht, kleine Männchen herbeiruft, die eben nicht der Hexe, nicht dem unmenschlichen Zwangssystem des Königs, sondern einzig dem Leben und seinem Entwicklungssehen dienen, schöpft der Soldat wieder Hoffnung und findet neuen Lebenssinn. Etwas anderes, ein Darüber Hinaus beginnt mehr und mehr Gestalt anzunehmen und das Gewohnte zu ergänzen, zu erhellen. Entlang so manch seltsamer Zufälle und auch Rückschläge lernt er das blaue Licht (!) konsequent einzusetzen, seine merkwürdigen Ratschläge zu befolgen und es vor allem nie mehr aus den Augen zu verlieren. Das bringt ihm großen (Seelen-)Reichtum ein und macht ihn stärker gegenüber den scheinbar alternativlosen Verlockungen des Bestehenden, das allerorts machtvoll lauert. Indem er dieses in Gestalt der Hexe tötet und sich auch am König und seinen Gefolgsleuten rächt, schwindet deren Kraft, ihn wieder und wieder unschuldig zum Tode zu verurteilen oder für sich auszunutzen. So gewinnt der Soldat seine Freiheit zurück und übernimmt, als verwundeter Mensch, die Herrschaft über das Reich. Dazu bekommt er die Königstochter zur Frau. Neuartige (Zwei-)Einheiten und eine andere Zukunft für das so errungene Ganze sind entfacht worden - hereafter.