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Seelen(um)stürze – Über S. FREUD hinaus [i]
Ein kulturmorphologischer Blick, der Kulturen als Wirkungseinheiten auffasst und erlebbar macht, birgt insbesondere bei der Analyse der FREUDSCHEN Schriften spannende Einsichten. „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930) ist hier seine zentrale Arbeit und beginnt mit einer ungewöhnlichen Einleitung, die vielfach überlesen wird. Dabei stellt diese zunächst merkwürdig, konfus und irgendwie abwegig erlebte Verhandlung zwischen FREUD und ROLLAND eine Art Ouvertüre dar, die in der Vertiefung einer psychologischen Analyse bereits (fast) alles in sich trägt, was wir über die Kultur damals wie heute sagen könn(t)en und doch – wie der flüchtige Leser und selbst FREUD – nicht gerne hören wollen. Und dieses Unbehagen fordert Konsequenzen.
Als erfreulich unzeitgemäß, insofern er kaum nach falschen Maßstäben wie Macht, Erfolg und Geld giere, führt FREUD zu Beginn seiner Erörterung von Kulturen seinen Freund Romain ROLLAND ein. Dieser habe sich an ihn gewendet mit der Anmerkung, dass er in einer ganz besonderen Empfindung, die er als ein Gefühl von Ewigkeit, von etwas Unbegrenztem, gleichsam Ozeanischen beschreibt, die eigentliche Quelle der Religiosität sehe. FREUD hingegen weiß es bei sich nicht zu finden. Ein Einfall kommt ihm jedoch zu Hilfe, der ebenfalls aus dem Reich der Dichtkunst stammt. So habe mal ein absonderlicher Dichter seinem Helden Hannibal als Trost für den freigewählten Tod mitgegeben: Aus dieser Welt können wir nicht fallen! Auch hier sieht FREUD ein Gefühl der unauflösbaren Verbundenheit mit dem Ganzen der Außenwelt am Werke. Das aber klinge so fremdartig und füge sich so übel in das Gewebe seiner Psychologie, dass er sich an eine psychoanalytische Ableitung zu machen beginnt.
Morphologisch drängen sich erste Fragen und Hypothesen auf: Was mag es sein, das FREUD so ins Schwimmen bringt und ihn in durchaus bedeutungsvoller Wiese an einer entscheidenden Stelle seines Werkes veranlasst, eine Fassung für das ihm Unfassbare finden zu wollen? Kommen in dieser Verwirrtheit vielleicht verdrängte Gesichtspunkte zum Ausdruck, und, wenn ja, finden ihre Inhalte noch einen, wenn auch entstellten Weg in seine Arbeit? Können wir das unbewusste seelische Wirken hier weiter verfolgen, so wir, wie in der Behandlung, nur aufmerksam hinschauen und -hören? Einen ersten Ansatz in diese Richtung bietet der Hannibal-Einfall. Dieser bebildert eine Verkehrungsgeschichte, etwas Ganzes drängt und scheitert; selbstgewählt zwar, der Trostspruch aber weist über diese einfache Feststellung hinaus auf ein Aufgeben(-Müssen) von Lebenskämpfen, die sich womöglich ins Unerträgliche, Aussichtslose gesteigert haben. Doch warum? Und was hat diese Dramatik zu tun mit Religion, mit Kultur, Kunst? Bilden Ganzheit und Verdrängung (Reste) hier eine Gegensatzeinheit, deren Zusammenhang durch Kunst, durch Absonderliches, Unzeitgemäßes wieder hergestellt werden will? Das würde erklären, weshalb es sich wieder und wieder in FREUDS Werk zu schleichen sucht.
FREUD hält sich derweil an seine Wissenschaft und beginnt nach einer Fassung für das Ganze zu suchen. Das „Ich“ biete sich hier als eine klar umgrenzte Einheit an. Doch setze es sich nach innen ohne scharfe Grenzen in ein unbewusstes seelisches Wesen fort, das „Es“, dem das „Ich“ als Fassade diene. Nach außen verschwimme es hingegen nur in pathologischen Zuständen oder der Verliebtheit. Dann erschienen Teile des „Ichs“ wie fremd und würden fälschlicherweise der Außenwelt zugeschrieben. Auch im Normalen tendiere jedoch alles, was Quelle von Unlust werden kann, dazu nach außen geworfen zu werden, um ein reines Lust-Ich einem fremden, drohenden Draußen gegenüberzustellen. So unterliege das „Ich“ Entwicklungen, die das Realitätsprinzip einsetzten. Ergo: Ursprünglich erhält das „Ich“ alles, als primäres Ich-Gefühl, einen Narzissmus, der das gesuchte (All-)Ganze darstelle. Dem scheint das ozeanische Gefühl zu entsprechen und Ausdruck seines Überlebens neben späteren Entwicklungsstufen zu sein. Das religiöse Bedürfnis leite sich somit ab von der infantilen Hilflosigkeit und Vatersehnsucht, als ein Versuch, den uneingeschränkten Narzissmus wiederherzustellen. Eine unbewusste Fixierung, die nicht durch Kultivierung überwunden werden konnte. Doch auch Zweifel klopfen an, denn es mag, so FREUD, noch Anderes dahinterstecken. Das aber verhülle einstweilen der Nebel.
Wenn wir den morphologischen Faden nun wieder aufnehmen, erleben wir eine zunehmende Verfestigung. Gegen eine nicht weiter verfolgte Lebensdramatik, d. h. im Grunde im Dienst ihrer Verdrängung, ersetzt FREUD die Kategorien von ROLLAND durch Festlegungen, durch Personalisierung und dualistische Aufteilungen in „Ich“ – „fremde Teile“, „innen“ – „außen“, „früher“ – „später“, „infantil“ – „erwachsen“. Das darin aufgegriffene Erleben von Fremdheit wird nicht als eine mögliche Fortsetzung des Drängens der von FREUD erlebten Fremdheit gegenüber dem ozeanischen Gefühl in Richtung Verständnis und Zusam-

menhang gesehen. In diese Abstraktion gehoben, bleibt es eine psychologische Analyse auf Distanz. Gegen alle Zweifel bleiben die verdrängten Inhalte machtlos und werden, ganz im Sinne FREUDS, als mögliche Quellen von Unlust durch ihre Verpackung in verschiedene Teile gebannt und lustvoll als Theoriebildung entäußert, personalisiert. Die so erfasste „Realität“ bildet sich in den Schriften FREUDS meist als etwas Festes, Äußeres, kaum Hinterfragtes ab. FREUD (und seine Kultur) können nahezu unantastbar als gesund und (hoch)kultiviert qualifiziert werden. Immer deutlicher ringen hier zwei Mächte miteinander, die den Einfall FREUDS gestaltlogisch weiterführen wollen. Als spannungsvolle Wirkungseinheit, die sich entlang des Existenzverhältnisses von offener Ganzheit und ihrer Verkehrung bewegt bzw. sich im Verkehrt-Halten verfestigt, und im Gegenzug darum ringt, wieder ganz (heil) zu werden durch die kunstvolle Wiederaufnahme von aufgegebenen Kultivierungskämpfen. Denn das Ganze ist immer mehr und anders als die Summe seiner Teile.
Das von FREUD gesuchte Ganze, das er bei sich nicht finden kann und das er als Narzissmus charakterisiert, ist es also, was er selber verdrängt hält. Und damit kehrt es immer wieder unverändert in Gestaltenbildungen wieder. Was FREUD überwunden zu haben glaubt, hat auch bei ihm überlebt, wenn auch in unbemerkten Abspaltungen, die auf dem Weg in diese Welt scheitern und veröden (müssen). Ähnlich der von FREUD eingebrachten Verkehrungsgeschichte Hannibals, ohne Aussicht auf Umkehr; zwar selbstgewählt und doch von unbewussten Wiederholungen bestimmt. Als Ausdruck dieses Verkehrt-Haltens (des Narzissmus) ist das Ozeanische Gefühl nur in Verkehrungsgestalten noch denkbar, als ein ungebrochen allmächtiges „Ich“, nicht als Paradox oder Dreh-Ganzes, das zwischen unbegrenzt und begrenzt changiert und sich im Bild des Ozeanischen fließend strukturiert, ausformt. Darin aber liegt eine psychologische Grundlage jeder Kultivierungsarbeit; das Unbehagen in der Kultur liegt im Umgang mit dieser Bewegtheit und Flüchtigkeit unserer alltäglichen Verwandlungswirklichkeit, die zugleich nach Entschiedenheit verlangt. Die Religion wird bei FREUD Illusion, nicht Etwas, das im Hier und Jetzt auch über die Narzissmus-Fixierung hinaus gelebt werden könne, sowie Kunst und Dichtung reine Phantasie seien, Nichts, auf das sich wissenschaftlich bauen ließe. Den Lebenstrost einer konkret
erlebten und mit Freunden wie ROLLAND geteilten ganzen (Seelen-)Welt, die in allem wirkt und aus der wir nicht fallen können, ja eine Art fröhliche Wissenschaft von gestalteten Unfassbarkeiten, mal mit, mal ohne Gott, kann FREUD bei sich nicht finden. Und wieder suchen Dichterworte das Ungeheuerliche, Uneingestandene in Wehmut zu ergänzen, wenn am Ende der Einleitung SCHILLERS Taucher ausruft: Es freue sich, wer da atmet im rosigen Licht. Bei FREUD bleibt dieser Ruf ohne Konsequenz.
Im Text finden sich weitere Spuren in diese Richtung. Zentral ringt FREUD um die Frage, wie es sein könne, dass im Seelischen frühe Entwicklungsstufen neben späteren bestehen bleiben. Erste Analogiebildungen führen ins Tierreich und die Evolutionstheorie. Niedrige Arten seien da ausgestorben, können aber rekonstruiert werden, doch manch ein Zwischenglied lebe noch. Im Seelischen sei dies meist Folge von Entwicklungsspaltungen, dennoch, so FREUD, zeige die Forschung, dass

Nichts im Seelischen, was einmal gebildet wurde, je untergeht. Es kann durch Regression wiederbelebt werden. Abbruch. Zweiter Versuch: Archäologie. Ruinen etwa der ewigen Stadt Rom fänden sich nicht selten, wenn auch entstellt, unter neuen Bauwerken begraben. Dort bräuchte es nur die Änderung des Blickwinkels, um mal das Eine, mal das Andere hervorzurufen. Und da bricht FREUD ab, es habe keinen Sinn, diese Phantasie auszuspinnen, sie führe zu Unvorstellbarem, derselbe Raum vertrage nicht zweierlei Ausfüllung. Die Linearität seines Denkens setzt unüberschreitbare Grenzen. Zugleich bemerkt er, wie weit er doch entfernt sei von einer anschaulichen Darstellung der Eigentümlichkeit des Seelischen. Die Erhaltung von seelisch Vergangenem sei nur unter der Bedingung möglich, dass das Gewebe nicht durch Entzündung oder Trauma gelitten habe, während Stadtentwicklungen stets mit Zerstörungen einhergingen. Abbruch. Die Verfestigungen fordern erneut Kurzschlüsse. Unlustvolle Zusammenhänge klopfen an. Umbildungen brächten da Zerstörungen der verkehrten Gestaltbildungen, sowie die Mühen und Leiden von Neubildungen mit sich. In den Rechtfertigungsversuchen mischen zudem unbewusste Schuldgefühle mit. Trotzig hält FREUD fest an etwas, das er einst gebildet hatte, ohne den verdrängten Resten, dem Unbehagen in der Kultur, ins Auge zu schauen und sie immer wieder anders aufzugreifen.
Was FREUD hier insgeheim plagt, ist das Muster des Auskuppelns, welches sich seitdem weiter zugespitzt und auf die Kultur ausgebreitet hat und in seinen Zusammenhängen heute klarer zu Tage tritt. FREUD wusste sich bis zuletzt nicht aus dem Nebel unbewusster Fixierungen heraus zu kämpfen, so differenziert sein Gesamtwerk sonst ist. In seiner Kulturschrift beklagt er selbst vehement, dass unserem blöden Auge das Kräftespiel, das das Individuelle mit dem Kulturellen verschränke, zu ewig gleicher Ordnung erstarrt sei.
In der Konsequenz einer Morphologischen Analyse wird ersichtlich, dass das FREUDSCHE Kulturbild, das er in den folgenden Kapiteln entwirft, eine Idealisierung ist, die weder seiner noch der Kultur der Gegenwart entspricht. Dennoch wird es vielfach weiter zitiert. Zu nah sind offenbar die Strukturbildungen. Damals wie heute veranlasst das Auskuppeln Widerstände gegen kritisch aufdeckende Blicke, zumal untermauert durch die FREUDSCHE Kulturtheorie, die Kulturfeindlichkeit als infantile Triebfixierung abwehrt. Ein weiterer Kurzschluss, der sich gegen das noch Offene, Ganze, gegen Entwicklung (in rosigem Licht) stellt. Die Leugnung dieses selbst hergestellten Stillstandes zum Erhalt des einmal Errungenen, Idealisierungen und selbstgerechte Blasen sind es, die die Kultur heute insgeheim zusammenhalten. Notwendige Abstürze in die Niederungen menschlicher Existenzbedingungen, sowie im Weitergehen kunstvolle Umstürze des Zurechtgemachten als drängendes neues Bild in Richtung einer wieder offenen Zukunft (Rapunzel) sind dagegen weit weniger reizvoll. Es wird Zeit, den Mut aufzubringen, bei aller Ehrung über FREUD hinauszugehen, dort, wo er stehen geblieben ist, und mit allen Sinnen für neue, entschiedene Verwandlungswerke, ja für eine Psychologie „in der Revolte“ (CAMUS) zu kämpfen.
[i] Ausarbeitung eines Vortrags von Dr. Claudia Pütz bei der Tagung „Kultur als Wirkungseinheit“ der Gesellschaft für Psychologische Morphologie (GPM) am 9. Oktober 2011 in Köln.